Ala Kazam!
In einem Artikel, den Ray Eames 1948 für "Mademoiselle’s Living" verfasst hat, schreibt sie: "Die Wohnung, in der wir leben, entspringt direkt einer von unseren individuellen Bedürfnissen bestimmten Lebensweisen. Eine wunderschön klare und schlichte Hülle lieferte der Architekt Richard Neutra, der diese Apartmentgruppe entwarf. Seine über eine lange Zeit hinweg entwickelte architektonische Schlichtheit zwingt den Mietern keinen Stil auf, sondern überlässt es ihnen, ihre eigene Umgebung zu gestalten durch Farbe, Oberflächengestaltung, Raumnutzung und die für das tägliche Leben und Aktivitäten notwendigen Gegenstände und Gerätschaften. In einer solchen Hülle schafft jede Familie ihre Umgebung, ohne dass ihr architektonische Details irgendeine Richtung vorschreiben."
Gleich im ersten Raum des Vitra Design Museums kann man sehen, wie die unbeschwerte Offenheit des neuen Wohnens aussieht – anhand einer rekonstruierten Rauminstallation, welche die Eames 1949 für die Ausstellung "For Modern Living" im Detroit Institute of Arts entworfen haben. Als der britische Künstler Richard Hamilton 1956 seine berühmte Collage mit dem eigenwilligen Titel "Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?" als Plakatentwurf für die wesentlich von ihm mitkonzipierte Ausstellung "This is tomorrow" entwirft, haben die Eames viele der Veränderungen bereits untersucht, die Kunst, Wohnen, Design, Technik und Kommunikation nach dem Zweiten Weltkrieg erfasst haben. Das alltägliche Leben hat sich von Grund auf verändert – sozial, ästhetisch und medial. Von nun an existieren Möbel, Dinge und Medien nebeneinander – ob Sofa und Staubsauger oder Malerei, Comic, Zeitung, Kino, Plakat, Fernsehen und Tonband. Der offene Raum, den Hamilton uns vor Augen stellt, hat große Fenster und über der offenen Decke der Kulisse schwebt im weiten All der Planet Erde. "Ich war", so Hamilton, "entschlossen, in den engen Raum eines Wohnzimmers all die Gegenstände und Gedanken einziehen zu lassen, die unser Nachkriegsbewusstsein beschäftigten."
Charles und Ray Eames haben den Aufbruch in eine neue Zeit nicht nur beobachtet, sie haben ihn geprägt. Es ist also kein Wunder, dass eine Ausstellung allein nicht ausreicht, um die zahlreichen Facetten des Eames-Universums zu erfassen. Da die letzte Schau zu den Eames im Vitra Design Museum schon 20 Jahre zurückliegt, sind es unter dem Titel "An Eames Celebration" nun gleich vier geworden: Im Gehry-Bau wird in der ursprünglich vom Londoner Barbican Centre organisierten Schau "The Power of Design" entfaltet; "Play Parade" in der angrenzenden Vitra Design Museum Gallery ist eine "Eames-Ausstellung für Kinder"; das Schaudepot stellt unter dem Titel, "Kazam!" Prototypen und Möbelexperimente vor; und wer genug Zeit mitbringt, kann im ehemaligen Feuerwehrhaus in 60 Eames-Filmen mit insgesamt mehr als acht Stunden Laufzeit jede Menge "Ideas and Information" aufnehmen.
Trotz oder wegen der Fülle des Gezeigten – vom Werbefilm über Prototypen, Anzeigen, frühen Zeichnungen von Ray bis zu Multimedia-Shows und gesammelten Dingen – liegt der Schwerpunkt der "Celebration" deutlicher auf dem gestalterischen Prozess als auf den fertigen Produkten. Schließlich entwarfen die Eames nicht nur Dinge, sondern vor allem Produktionsverfahren, also die Art und Weise, wie man Dinge herstellt. Handschriftlich hatte Charles Eames 1964 notiert: "Die Vorstellung, Design sei die Entwicklung einer Reihe von progressiven Skizzen, ist romantisch und nicht sehr zutreffend." Und er fügte hinzu: "Ist das Konzept ausgearbeitet, stellt es rund fünf Prozent der Designarbeit dar – die übrigen 95 Prozent der Leistung werden dafür benötigt, das Konzept vor dem Auseinanderfallen zu bewahren."
Bereits die 1940er Jahre waren im Verhältnis von Kunst und Design erstaunlich offen und durchlässig. Als Charles und Ray nach ihrer Heirat im Juni 1941 ohne viel Hab und Gut nach Los Angeles ziehen und über ihre berufliche Partnerschaft nachdenken, sprechen sie, wie Eames Demetrios berichtet, davon, sich "mit Design, Film und allem möglichen anderen zu beschäftigen". Zunächst baut Charles Filmkulissen für die MGM-Studios. Zugleich aber beginnen die beiden in einem improvisierten Studio in ihrer Wohnung mit eigenen Experimenten. 1942 entwirft Ray, die bei Hans Hofmann Malerei studiert hat, ihre erste Skulptur aus dreidimensional geformtem Sperrholz; parallel arbeitet Charles an der – ebenfalls aus Formsperrholz hergestellten – Beinschiene, die er dem Medical Department der US Naval Air Station vorstellt und für die seine zusammen mit einigen Partnern gegründete "Plyformed Wood Company" im November den Auftrag zur Produktion von 5000 Stück erhält.
Nach Kriegsende geht es in raschen Schritten voran. Amerika und Optimismus sind Synonyme – spielerisch sind die Eames mittendrin, glauben sie doch daran, man lerne am besten durch unmittelbares Erleben. Wer etwas mit eigenen Augen sieht, kann sich eine eigene Meinung darüber bilden – und genau das wollen sie mit ihren Filmen und Ausstellungen erreichen. "Die Aufgabe einer Jukebox", meinte Charles Eames einmal, "sei es, die Menschen dazu zu bringen, Münzen einzuwerfen, damit sie Musik spielt. Wenn man eine sehr unauffällige Jukebox herstelle, sei das diesem Zweck nicht gerade zuträglich".
Räume und Möbel werden von nun an ebenso geformt wie die veränderten Bedürfnisse – organisch, frisch, technisch und doch kunstvoll, in den Skulpturen von Ray oder der wolkenhaften "La Chaise", aber eben auch in jeder Sitzschale aus Formsperrholz oder glasfaserverstärktem Kunststoff. 1964 konzipieren die Eames den IBM-Pavillon auf der Weltausstellung in New York City, werfen einen Blick auf den Computer und huldigen mit ihrer Multiscreen-Installation einer neuen Wahrnehmungslogik. Der Blick weitet sich mehr und mehr, dringt ins Allerkleinste ein und stößt auf der anderen Seite vor ins Interplanetarische. Buckminster Fuller macht sich Gedanken über das ohne Gebrauchsanweisung versehene "Raumschiff Erde", und 1977 erkunden die Eames in kontinuierlichen Schritten die faszinierenden Dimensionen des irdischen Daseins in ihrem wunderbaren Film "Powers of Ten".
So gesehen ist es nicht mehr als ein Gemeinplatz, dass Charles und Ray Eames das moderne Möbeldesign geprägt haben wie keine zweiten Designer – Italiener und Skandinavier eingeschlossen. Was das konkret heißt, kann man in Weil ebenfalls erkunden: Die Eames haben das Design in einer Mischung aus Rationalität und kulturellem Crossover massentauglich gemacht und am Markt erfolgreiche Typologien entwickelt, die bis heute gültig sind. Was sich keineswegs nur einer cleveren Reaktion auf einen sich wandelnden Geschmack verdankt. Erreicht wurden Präzision und Vielgestaltigkeit des Eames-Designs durch ihr vielfältiges methodisches Vorgehen. Dessen Potenziale blühten im offen-experimentellen Westcoast-Flair auf und fanden im rasch wachsenden amerikanischen Markt eine entsprechende Resonanz.
Der fundamentale Wandel ist aber auch verbunden mit organisch formbaren Materialien wie Formsperrholz und glasfaserverstärktem Kunststoff, und nicht zuletzt verdankt sich die für die Eames so typische Wohncollage ihrem Geschick, diverse Kulturen entspannt in eine neuartige Form der Offenheit einzubeziehen. "Love investigations" hat Charles Eames das Zusammenspiel von Hingabe und Leidenschaft genannt, das nicht nur zu gutem Design, sondern auch zu dessen erfolgreicher Produktion geführt hat. So wäre auch Vitra, es ist kein Geheimnis, ohne die Begegnung mit Charles und Ray Eames nicht zu dem Unternehmen geworden, das es heute ist. Oft wurde berichtet, dass bei Vitra, wenn weitreichende Entscheidungen getroffen werden mussten, gern die Frage gestellt wurde: Was würde Charles sagen?
Ob das auch heute noch so ist? Fest steht: Viele Aspekte, die heute eine global gewordene bewegliche Lebensweise prägen – von einer flexiblen, preiswerten, aber keinesfalls anspruchslosen Einrichtung bis zur Durchlässigkeit der Grenze zwischen Arbeiten und Wohnen – finden sich bereits bei den Eames. Wenn junge Designer deren Entwürfe heute, da sie fast überall auftauchen, nur noch historisch interessant finden und gegen die Prägungen aufbegehren, so kommen sie doch kaum an deren Methodik und Geschick vorbei.
Im Schaudepot etwa kann man anhand von ein-, zwei- oder dreiteiligen Sitzschalen aus Sperrholz, Aluminium und Fiberglas, diversen Untergestellen aus Draht oder Aluminium, Werkzeugen und Prototypen anschaulich nachvollziehen, wie die Eames konkrete Fragen während des Entwurfs- und Entwicklungsprozesses zu lösen versuchten. Schnell wird deutlich, wie viele Entwicklungsschritte nötig sind, bis ein Entwurf soweit gediehen ist, dass er in Serie gehen kann. Im Schaudepot steht auch die Heißpresse, die das Paar 1941 in seiner Wohnung in L.A. gebaut hat, um Sperrholz dreidimensional verformen zu können. Was auf den ersten Blick wie ein banales Lattengerüst aussieht, hatte in seiner Wirkung durchaus etwas Magisches, weshalb es die Eames mit den Worten beschrieben: "Ala Kazam! like magic".
Ausstellung:
An Eames Celebration
Vitra Design Museum, Weil am Rhein
bis 25. Februar 2018
täglich von 10 bis 18 Uhr
Begleitend finden zahlreiche Workshops und Vorträge statt.
Katalog:
Eames Furniture Sourcebook
Hrsg. v. Mateo Kries und Jolanthe Kugler
336 S., geb., ca. 350 Abb.
ISBN 978-3-945852-19-4
49,90 Euro