In seinem Essay für das Fotobuch „Berlin Mitte“ des Berliner Fotografen Ulrich Wüst, hat Wolfgang Kil 1997 die rasenden Veränderungen der Berliner Innenstadt nach der Wende beschrieben. Vor allem beschäftigte ihn das „Verschwinden des Himmels über Berlin“, so der Titel seines Textes, also der Verlust jener Weite und Offenheit, von der die Stadtlandschaft Berlins mit ihren Brachen, ruinierten Flachbauten und Fehlstellen so lange geprägt gewesen war und die nun im aufkommenden Neubaurummel vollständig zu verschwinden begannen. Seine Augen, so schreibt er, suchten „nach dem baumhohen Gestrüpp in den Winkeln schwärzlicher Mauern, nach den Durchblicken auf Giebel und Dachkanten über zwei, drei Straßenecken hinweg. Vergeblich. Aus unseren Schlingerwegen quer durch die Hausinsellandschaft waren wieder richtige Straßen geworden, schroffe Schluchten eines orthogonalen Stadtgefüges, von dem es nun hieß, dies sei das ursprüngliche und deshalb auch heute unverzichtbare Raster der Mitte Berlins.“
Das Verschwinden der Stadtlandschaft
Heute, fast 20 Jahre nach diesem Text, ist nicht nur der Himmel über Berlin-Mitte verschwunden, sondern über fast der gesamten Innenstadt. Längst werden weite Teile des einst offenen Stadtgefüges wieder von den engen Korridorstrassen der Kaiserzeit mit ihren verschlossenen Mietskasernen bestimmt, und man darf sich nicht nur am neuen Stadtschloss fragen, ob eine andere Stadt nicht nur möglich, sondern wünschenswert gewesen wäre.
Roger Bundschuh ist ein Berliner Architekt, der sich – wie viele seiner Kollegen – immer wieder mit dem „Berliner Block“ auseinander gesetzt hat und der mit seiner Architektur immer wieder Öffnungen und Blickverbindungen in die urbane Zugeknöpftheit dieser Mietskasernenstadt zu schlagen versucht. Sein wohl bekanntester Bau, das Wohn- und Geschäftshaus L40 am Rosa-Luxemburg-Platz, war ein großes, dunkelgraues Beispiel dafür, wie sich so ein Block anders gliedern und offener gestalten lässt, wenn ein Neubauten eben nicht nur den maximal möglichen Bebauungskanten folgt. Nun hat er an der Michaelkirchstraße, ziemlich genau auf der Grenze zwischen Kreuzberg und Mitte und gegenüber vom gewaltigen Kraftwerk Mitte, ein kleines Wohnhaus fertiggestellt, das dieses Thema in kleinerem Maßstab fortführt – und so zumindest einen Teil des Himmels über Berlin zurückholt.
Brandwand am Wurstpaten
Der Block, in dem Bundschuhs Neubau steht, ist noch eine dieser zerklüfteten Stadtlandschaften, aus denen Berlin lange bestand. Zur Spree hin hält sich eine kleine Wagenburg auf einer überwucherten Brache, dann folgen entlang der Michaelkirchstraße ein paar bedeutungs- oder geschmacklose Neubauten der 1990er- und 2000er-Jahre. Dazwischen finden sich noch ungenutzte Baulücken – Bauerwartungsland? –, bis an der Kreuzung zur Köpenicker Straße, nur ein paar Meter vom Deutschen Architekturzentrum entfernt, das wilde Ensemble in ein paar Garagen sowie einer beliebten Imbissbude, dem „Wurstpaten“, gipfelt.
Direkt neben der Wurstbude ragt nun jäh die Brandwand von Bundschuhs Neubau auf, wie eine dunkelgrau verputzte Version vom Half Dome in Kalifornien. Für den Imbiss wirkt das fast wie eine bedrohliche Geste, nicht etwa, weil Lawinengefahr bestünde, sondern weil diese Wand einen Anschluss herstellt, der die Frage impliziert, wann dieser Stadtblock wohl geschlossen werden wird.
Roger Bundschuh beschreibt sein Projekt schlicht als „Mehrfamilienhaus“, eigentlich sind es aber zwei Häuser. Steht man davor, wohnt im linken Haus der Bauherr mit seiner Frau: Ein Kunstsammler, der sich hier den Traum von einem innerstädtischen Wohnhaus mit Dachgarten erfüllt hat. Im rechten Haus befindet sich ein Ladengeschäft und darüber fünf kompakte Eigentumswohnungen, die oberste davon eine Maisonette-Wohnung mit kleiner Dachterrasse. Durch die gleichmäßige Verwendung auffallend großer Fenster und ihrer fast schon rätselhaft im Putz verborgenen Lüftungsflügel, sowie durch die einheitliche, recht grob aufgetragene Putzfassade, werden beide Häuser zur Einheit, obwohl sie auf dem kleinen Grundstück möglichst weit auseinander gerückt wurden. Sie schmiegen sich an ihre Nachbarn, an das tatsächlich bereits gebaute Haus zur Linken und jenes imaginäre zur Rechten, das man sich jetzt – statt der Wurstbude – als neue Blockecke hinzudenken kann, wenn man will.
Zwischen den beiden neuen Häusern ist ein ungewöhnlicher, städtischer Zwischenraum entstanden. Dieser Platz, der auch in seiner Pflasterung als Erweiterung des Bürgersteigs gestaltet wurde, wird nach hinten durch einen freistehenden Erschließungsturm begrenzt. Dieser besteht aus einem Aufzugsschacht aus rohen Betonplatten; zu beiden Häusern bleiben schmale Lücken, in denen die dahinterliegende, offene Metalltreppe sichtbar wird. Kurze Brücken führen jeweils zu den Wohnungstüren hinüber: Wer seine Wohnung betritt, wird hier kurz sichtbar.
Vielfalt der Bezüge
Durch das Auseinanderrücken haben beide Gebäude je drei Fensterfassaden, was für eine enorme Offenheit in den Wohnungen sorgt. Bundschuh spielt durch die übergroßen, immer raumhohen Fenster ausgiebig mit allen jetzt möglichen Sichtverbindungen zwischen den Wohnungen, den Häusern und der Stadt. Der Wohnraum scheint mit der Umgebung zu verschmelzen, die Menge an Aussicht und Himmel ist insbesondere auf den unteren Etagen beeindruckend. Durch die großen Fenster betrachten sich die beiden Häuser auch gegenseitig, was zu einer permanenten Verhandlung über Privates und Öffentliches, über Rückzug und Präsentation führt. Diese Verhandlungen werden wohl hauptsächlich mit großen Vorhängen ausgetragen werden: Sind die offen, bleibt es auch der Wohnraum; werden sie zugezogen, entstehen Intimität und Geborgenheit. Allerdings verkleinert sich dann auch der gefühlte Wohnraum.
Nach hinten, wo unter einer großen Brandmauer ein bescheidener Gemeinschaftsgarten liegt, hat jede Wohnung einen kleinen Balkon. Und weil auch die Wohnungsgrundrisse betont offen sind – offene Einraumwohnungen, gegliedert durch die innenliegenden Versorgungskerne mit Bad und Küchenanschlüssen – entstehen auf kleinstem Raum eine komplexe Vielzahl von Sichtachsen und Verbindungen zwischen Wohn- und Stadträumen.
Foto © Laurian Ghinitoiu
Das Haus als Museum
Im Einfamilienhaus des Bauherren sei es darum gegangen, so Bundschuh, alle Qualitäten eines Hauses in der Vorstadt unterzubringen. Die offenen Etagen wirken auf dem Grundriss von 80 Quadratmetern geräumig; Öffnungen und kleine Galerien lassen Licht immer wieder vertikal durch die Etagen fallen – auch das ein Motiv, das Bundschuh schon im L40 angewandt hatte. Es ist das senkrechte Ausstellungslicht, das wir aus Museen oder guten Galerien kennen, das uns hier im privaten Wohnbereich aber ungewohnt und sehr luxuriös vorkommt. Immerhin handelt es sich ja tatsächlich um einen Kunstsammler, der einige seiner Wände nun als perfekte Ausstellungsflächen nutzen kann. Das Erdgeschoss, dessen großes Fenster sich im Panoramaformat zum kleinen Platz zwischen den Häusern richtet, kann als halböffentliche Ausstellungsfläche genutzt werden. So soll der Platz, auf dem bereits eine Skulptur von Birgit Werres steht, zur Ausstellungsfläche werden. Er ist frei zugänglich – man muss sich nur ein wenig überwinden, in den privat wirkenden Raum zwischen den Häusern und dem Fahrstuhlschacht zu gehen.
Über dem Ausstellungsraum im Erdgeschoss folgen, nach Privatheit gestaffelt, die Etage mit dem Arbeitszimmer, dann Wohn- und Kochbereich, schließlich ein Schlafzimmer mit Bad. Vor dem Schlafzimmer liegt ein kleiner Patio, in dem eine schlanke, weiße Treppe – fast japanisch – zur Dachterrasse hinaufführt. Die Bauherren hatten sich in den Gesprächen mit dem Architekten gewünscht, von ihrem Schlafzimmer aus direkt in den Garten treten zu können. Um das Schlafzimmer deswegen aber nicht ins Erdgeschoss verlegen zu müssen, versetzte Bundschuh den Garten aufs Dach. Neben einigen Hecken und kleinen Rasenflächen stehen hier sieben junge Weiden, deren Äste sich wie eine schützende Haube über das Haus und die Oberlichter werfen, durch die man aus dem Schlafzimmer in den Sternenhimmel schauen kann. Eine gewisse deutsche Romantik ist dem Haus sicher nicht abzusprechen.
In seinem dunkelgrauen Auftritt ist es sicher kein pompöses Projekt geworden. Wie eine Auster versteckt es seinen Luxus eher im Inneren. Es ist dabei sicher kein Zufall, dass es abermals ein Kunstsammler ist, der für aufregende Architektur in Berlins Innenstadt sorgt, denn nur der so an Berlin interessierte Kunstmarkt scheint derzeit beides mitzubringen: das Interesse für ungewöhnliche architektonische Lösungen und die finanziellen Möglichkeiten, diese auch umsetzen zu können – ohne dabei an maximiertem Profit interessiert zu sein. Natürlich hat sich auch dieses Projekt „gerechnet“, sagt Bundschuh, aber es wäre eben auch mehr drin gewesen. Stattdessen aber fragt das Projekt, was wir eigentlich als Luxus empfinden: „Sicher hätten wir alle Wohnungen größer machen können, wenn wir das Grundstück maximal bebaut hätten. Aber der Luxus der Aussicht, der Luxus der Weite, wäre dabei verloren gegangen und ich bin überzeugt, dass es genug Menschen gibt, die genau das sehr zu schätzen wissen.“
So ist nicht nur in den privaten Wohnungen ein ziemlich großes Stück vom Himmel über Berlin erhalten geblieben, sondern auch im Stadtraum eine Offenheit bewahrt geblieben; jedenfalls dann, wenn man den Durchblick von der Straße in den Innenhof zu schätzen weiß, in diese typisch Berliner Stadtlandschaft mit ihrer Spontanvegetation, einer hohen Ziegelmauer und sogar ein paar Originalteilen der Berliner Mauer, die auf dem Grundstück lagern und für die sich niemand mehr zu interessieren scheint. Angesichts der ganzen Gegenwartsbesoffenheit ist es in Berlin offenbar inzwischen schwer, selbst die jüngste Vergangenheit wertzuschätzen.
Zeichnungen © Bundschuh