Verkanntes Berlin
In ArchitektInnenkreisen hat sich eine gewisse Geringschätzung der aktuellen Architektur Berlins breit gemacht. Nach dem kurzweiligen IBA 84/87-Spektakel kam die Wiedervereinigung und nach ihr die "Hauptstadtarchitektur", der man gerne Größenwahn und Schematismus bescheinigt. Langweilig, nicht besuchenswert sei die Gegenwartsarchitektur an der Spree. Man vermisst Aufsehenerregendes, wobei man über Signature Architecture der internationalen Stars natürlich ebenso lästern würde. Das einzige Exemplar dieser Spezies, das Springer Verlagsgebäude von OMA/Rem Koolhaas, hat in der Stadt nicht gerade einen Hype erzeugt.
Unter der Überschrift "Dunkel leuchtende Felsenkluft" ist es in einem neuen Buch vertreten, das im Übrigen ein anderes Bild der jüngsten Hauptstadtarchitektur zeichnet und 30 ungemein spannende Projekte präsentiert. Die ArchitekturjournalistInnen Sandra Hofmeister und Florian Heilmeyer haben es herausgegeben. Derlei Übersichten über das Baugeschehen sind nicht selten, aber dieses hier bietet kluge, einfühlsame Essays und Projekttexte und erklärt, was die manchmal durchaus unspektakulären Häuser eigentlich ausmacht, weshalb sie gut und vorbildlich sind und weshalb es die sind, die Baukultur, Architekturentwicklung und Stadtneu- bzw. umbau wirklich weiterbringen. Die Bandbreite reicht vom Verlagsgebäude der taz über das Wissenschaftsmuseum Futurium, Bürozentren, Wohnanlagen, Einfamilienhäusern und Aufstockungen bis hin zu Verdichtungsprojekten und großen Sanierungsfällen wie der Staatsbibliothek Unter den Linden. Sie zeigt, dass neben der besinnungslosen Investorenbauproduktion eine Fülle von smarten, individuellen Lösungen zu entdecken ist, die Hoffnung macht auf die nahe Zukunft, wo das zum hektischen Bauboom führende zinsarme Baugeld nicht mehr auf der Straße liegt und sich das Nachdenken über kluge Architektur wieder lohnt.
Beim Blick auf die Liste derer, die da nachdenken, ist festzustellen, dass von den 30 Projekten nur drei von Architektinnen gebaut wurden. In weiteren sieben Büros sind Frauen Mitinhaberinnen in Paarbeziehungen oder Büropartnerschaften. Warum Architektinnen als Projektverantwortliche so unterrepräsentiert sind, obwohl sie an den Hochschulen und in vielen Büros längst die Mehrheit bilden, diese Frage thematisiert seit vielen Jahren das Komitee Woman in Architecture (WIA). Fast alle wichtigen Akteurinnen der Baukultur sind in Berlin vertreten, und so startete das Architektinnennetzwerk n-ails die Initiative WIA Berlin und organisierte im Juni 2021 ein 30-tägiges Festival, das die "Facetten weiblicher Baukultur" ins Gespräch bringen sollte. Nun liegt der Tagungsband, der das Phänomen Frauen in der Architektur umfassend von allen Seiten beleuchtet, vor. In den Interviews und Statements wird die Sicht auf die Aufgaben der Bauschaffenden aus weiblicher Sicht ebenso deutlich wie die Philosophien, die Haltungen und die Weltsicht, die Architektinnen vertreten.
In der Folge kommen die Protagonistinnen unterschiedlichster Bauprojekte, Aktionen, Planungen, Seminare, Ausstellungen und Initiativen im architektonischen, städtebaulichen und stadtsoziologischen Bereich zu Wort, werden Architekturkritik, Baugeschichte, Fotografie und Film im Hinblick auf ihre weibliche Komponente untersucht. Ob Frauen in der Materialforschung Spezifisches leisten (Kapitel "FEMININ * Werkstoffe von Frauen"), wird zwar nicht ersichtlich, dass sie „Räume und ihre Materialität in Einklang mit der Identität ihrer Nutzer*innen zu bringen“ versuchen, schon eher. "Die Baukultur wird weiblicher", konstatiert Mitinitiatorin Elke Duda. So falsch ist das nicht. Bundesbauministerin, Senatsbaudirektorin, BBR-Präsidentin, BAK-Präsidentin, Präsidentin AK Berlin, BDA-Präsidentin, Chefredakteurin des DAB (die BDA-Zeitschrift "Der Architekt" wurde gar in "Die Architekt" umbenannt), das baupolitische Führungspersonal in Berlin ist fast flächendeckend weiblich. Aber: "Über das Präsentieren der Frauen in der Architektur erhoffen wir uns (…) nichts weniger als die Neuschreibung der Baugeschichte, nicht nur von Berlin!" – diese Hoffnung bleibt wohl noch lange Wunschdenken. Die Diskussion "gibt es eine weibliche Architektur?" verlief vor zwei Jahrzehnten schon im Sand. Doch es gibt nach wie vor die aktuelle Frage nach Frauen in der Architektur (nicht nur in Berlin), und der vorliegende Band ist das Vademecum zu diesem Themenkreis.
Berlin – Urbane Architektur und Alltag seit 2009
Florian Heilmeyer, Sandra Hofmeister (Hg.)
München 2022
Edition DETAIL
336 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-95553-589-6
59,90 Euro
Woman Architecture Berlin – Facetten weiblicher Baukultur
n-ails e.V. (Hg.), Berlin 2022
jovis Verlag
176 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN 978-3-86859-763-9
35 Euro