Bühnen unterm Heizkessel
Wo früher illegale Techno-Raves wummerten und Urban Explorer die mit Graffiti besprühte, historische Industriearchitektur durchstreiften, entsteht auf 20.000 Quadratmetern gerade ein multifunktionaler Veranstaltungsort mit Konzertsaal, Jazzclub, Eventflächen, Gastronomie und Deutschlands größter Galeriefläche für zeitgenössische Kunst. Ziel der Eigentümer Michael und Christian Amberger: Einen Ort zu schaffen, der Kunst allen zugänglich macht und an dem sich BesucherInnen den ganzen Tag lang aufhalten möchten.
Das ehemalige Heizkraftwerk in einem unscheinbaren Wohn- und Gewerbegebiet am Münchner Stadtrand bietet dafür mit seiner Stahlbeton-Ziegel-Architektur und den schmalen, hohen, die Flächen senkrecht rhythmisierenden Fensterbändern eine einzigartige Kulisse. Es wurde zwar in der Zeit des Nationalsozialismus errichtet, die bauliche Gestaltung entstammt aber dem Historismus des frühen 20. Jahrhunderts. "Die Fassade entspricht daher nicht dem 'nationalsozialistischen Stil'", sagt Architekt Markus Stenger. Der imposante Kubus soll auch in Zukunft die Optik des Ortes bestimmen. Ihm zur Seite gestellt wird ein in der Höhe deutlich untergeordneter, kubischer Neubau, dessen vor eine Glashülle gesetzte Lamellenfassade die vertikale Fenstereinteilung des historischen Bauwerks aufnimmt. Durch die gleichmäßige Anordnung der Lamellen über die gesamte Länge des Neubaus entsteht eine Art Leinwand, vor der die Architektur des alten Heizkraftwerks noch besser zur Geltung kommt. Das ergänzende Gebäude sei nötig, um die vielfältige Nutzung zu ermöglichen, erklärt Stenger. Es beherbergt neben Show- und Tagungsräumen die "Pulpo Gallery", die über vier Stockwerke reicht, und mit dem "Elektra Tonquartier" einen Konzertsaal für 476 Personen im klassischen rechteckigen "Shoebox"-Design.
Herzkammer des Bergson Kunstkraftwerks ist die beinahe 25 Meter hohe ehemalige Kesselhalle des Heizkraftwerks: das "Atrium", konstruktiv ein Stahlbetonskelett mit historisierender Hülle und neu hinzugefügten Erschließungsbauteilen. "Man muss den Kopf in den Nacken legen, um die Decke sehen zu können", sagt Stenger. "Ein Gefühl wie beim Pantheon in Rom." Einen Eindruck, den die ArchitektInnen durch den Einbau einer statisch notwendigen Stahlbetondecke in Kassettenform unterstützen. Leitidee sei von Anfang an gewesen, die Wirkung des gewaltigen Raumvolumens zu erhalten und die Horizontale dennoch erlebbar zu machen. Eingebaut werden deshalb lediglich ein monolithischer Technikblock zur Versorgung der Gastronomie im Erdgeschoss, eine Tagesbar, schwarzverkleidet und in ihrer Kubatur an die früheren Heizkessel erinnernd, sowie eine breite Treppe in der Mitte der Halle, die mit Sitzstufen aus Eichenholz zum Verweilen einlädt und auf die "Bel Étage" führt. Die Rundum-Galerie in sechs Metern Höhe bietet fantastische Ausblicke in die kathedralenhafte Weite der Halle.
In einen solch gigantischen Raum Aufenthaltsqualität in menschlichem Maßstab zu bringen, war Aufgabe der Interior Experten von Arnold/Werner. "Auf der klassischen Linie von Stenger2 Architekten mit Sichtbeton, Eichenholz und einem dunklen Gussasphalt-Terrazzo konnten wir gut aufbauen", sagt Sascha Arnold. Grundlage des Interior-Entwurfs ist ein Farb- und Materialkonzept, das die hier einst stattfindenden Verbrennungsprozesse erlebbar macht. Im weitläufigen Foyer-Bereich mit Tages-Bar dominiert ein Mix aus schwefelgelben und aschgrauen Farbtönen. An der Südseite ist das Fine-Dining-Restaurant "Zeitlang" mit separatem Lounge- und Barbereich platziert. Dort erzeugen Oberflächen aus karbonisiertem Holz und schwarz geschlemmten Ziegeln räumliche Geborgenheit innerhalb der rohen Stahlbeton-Skelettstruktur der Halle. "Das Restaurant haben wir mit Absicht sehr dunkel gehalten, denn es wird wohl hauptsächlich abends frequentiert", erklärt Arnold. Gute Akustik, ein gutes Lichtkonzept und Eckplätze macht er als Grundpfeiler für ein gelungenes Gastronomie-Interior fest. Für die Tages-Bar und das Restaurant im "Atrium" heißt das: Gepolsterte Sitzbänke mit hohen Rückenlehnen, unter die Tischplatten geklebtes Akustikmaterial, um den Schallpegel zu dämpfen, ein durchdachtes Lichtkonzept mit einer Grundbeleuchtung mit schmalen Kegeln von der Decke herab und dimmbaren Szenespots über den Tischen.
Das kulturelle Nutzungskonzept des "Atrium" basiert auf größtmöglicher Flexibilität, keine Kunstform soll durch bauliche Gegebenheiten ausgeschlossen werden – von der akrobatischen Performance über den Poetry-Slam bis hin zur verrückten Fashion-Stafette zwischen mehreren kleineren Podien. Die Anordnung der bespielbaren Flächen auf Erdgeschossebene sowie der Bel Étage ermöglicht auch mehrere Event-Aktivitäten gleichzeitig, etwa während einer Messe. Eine Vielzahl von Hängepunkten sind für die Technik vorgesehen, die eine jeweilige Traglast von 500 Kilo aufnehmen können. Weitere Ausstellungsflächen befinden sich im "Silo", den vier begehbaren ehemaligen Kohlespeichern unter der Decke des "Atrium". Schon beim Betreten der Halle zieht das wuchtig-markante Betongebilde die Blicke auf sich. In seinem Inneren summieren sich die rohen Wände, die eingezogenen Gitterböden über den Kohleauslässen, die repetitive Betonung der vier gleichen Raumvolumen und das gedämpfte Licht zu einer einmaligen Aura.
Und wenn draußen die Sonne untergeht, gehen im Live-Club "Barbastelle" im bunkerartigen Untergeschoss der ehemaligen Kesselhalle die Scheinwerfer an. Auf der Bühne: Jazzmusiker, Comedians oder Schriftsteller. Schwere Vorhänge und kleine runde Tische mit Tischbeleuchtung, dazu glutrote Farbtöne und eine Bar mit kleiner Speisekarte kreieren ein intimes Ambiente. "Wir haben versucht, die Atmosphäre der New Yorker Jazzclubs der 1930er-Jahre in die Jetztzeit zu transferieren", sagt Arnold. Der Live-Club wurde nach der seltenen Mopsfledermaus (barbastella barbastellus) benannt, die das stillgelegte Heizwerk als Winterquartier nutzte. Damit sich die streng geschützte Art auch im Bergson Kunstkraftwerk wohlfühlt, hat man ihr im Untergeschoss eine eigene abgeschottete Wohnhöhle eingerichtet, samt Flugtunnel als Verbindung zur Oberfläche in einiger Distanz zum künftigen Kulturbetrieb, der sich hier ab Oktober 2023 abspielen soll.