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Bausteine für Bilder am Boden
von Thomas Edelmann | 18.01.2010

Es lohnt sich, mal wieder auf den Boden zu sehen. Die „Welt zu Deinen Füßen" thematisierte Bazon Brock bereits vor zehn Jahren in seinem gleichnamige Buch mit dem Untertitel „Den Boden im Blick: Naturwerk - Kunstwerk - Vorwerk". Das Auftragswerk untersuchte die vernachlässigte Dimension der kunst- und kulturgeschichtlichen Plattform, auf der die Welt zu ruhen scheint und die doch immer wieder durcheinander gewirbelt wird. „Karl May," schrieb Brock, „brachte uns Kindern bei, wie ein Indianer zu sehen, wenn wir durch die Gegend streunten: ein Auge auf den Boden unmittelbar vor unseren Füßen gerichtet, das andere fünfzig Meter voraus. Beim schnelleren Laufen war es besonders wichtig, beide Blickhorizonte übereinander zu blenden. Voraus sehen wir markante Strukturen des Bodens. Erhebungsprofile und Konturlinien. Voraus sehen wir also abstrahierend. Nah sehen wir konkretisierend, das heißt wir lösen das Blickfeld in Einzelheiten auf."

Eine beinahe programmatische Aussage zum Programm „Scale", das Vorwerk 2009 einführte. Johannes Schulte, seit 2003 Geschäftsführer des Unternehmens, beauftragte den Architekten Hadi Teherani mit dem Entwurf einer neuartigen Design-Fliese. Nicht Autoren-Design, sondern einen Baukasten mit einer größtmöglichen Anwendungsbreite und -tiefe schufen Teheranis Designbüro, federführend mit Elke Malek, und die Vorwerk Designchefin Ina Struve. Grundgedanke ist die Überwindung herkömmlicher Raster im Format fünfzig mal fünfzig Zentimeter. Neben dem Format ein mal ein Meter, sechzig mal sechzig Zentimeter, gibt es Halb- und Viertelformate, die sich als idealer Kombinations- und Formbaukasten präsentieren. Denn neben den Größen, können unterschiedliche Farben, Qualitäten, dreidimensionale Oberflächen und Laufrichtungen variiert werden, demnächst mit eigenem Computer gestützten Planungstool. Damit ließen sich „Bilder auf dem Boden" erzeugen, sagt Teherani. Erst recht in der Variante „FreeScale", mit der sich offene Formen im Raum gestalten lassen.

Versuchten Architekten und Interieurdesigner bislang eher zu vertuschen, dass sie mitunter aus pragmatischen Gründen Teppichfliesen statt Bahnware verwendeten, so wird nun die Fliese zum Gestaltungselement, das selbstbewusst und qualitätvoll eingesetzt werden kann.

Auch in Sachen Ökologie gibt es hier nichts unter den Teppich zu kehren. Schon Mitte der achtziger Jahre baute Vorwerk Produktionsabläufe um, sparte Wasser und Energiekosten ein, dosiert seither die Verwendung von Farbstoffen auf ein genaustens dosiertes Mindestmaß. Auch „Scale" entspricht den eigenen strengen Umweltstandards. Die Fliese ist mit einer volltextilen recyclierbaren Beschichtung versehen, die Ressourcen schonend hergestellt wird.

Ab Januar 2010 will Vorwerk „Böden in Welten verwandeln" und tourt mit seinem neuen Konzept „Transflooring" von der Swissbau in Basel, zur Contractworld nach Hannover und schließlich zur IMM in Köln. Gezeigt werden in Basel ausgesuchte Sortimente der Objektkollektionen, in Hannover steht die neue Design-Fliesenkollektion „Scale" im Mittelpunkt, deren Kombinationsmöglichkeiten Besucher des Passagen-Programms während der Kölner Möbelmesse bei Meiré und Meiré in der Kölner Lichtstraße experimentell erproben können. Im „Pure Village" der IMM Cologne feiert zeitgleich eine neue hochwertige Wohnkollektion Premiere.

Zur „Transflooring"-Tour erscheint erstmals die neue Publikation „Vorwerk Dialog". Mit der „Dialog"-Kollektion begann 1988 eine öffentliche Experimentierphase des Unternehmens, eine neue Art mit der Öffentlichkeit ins Gespräch zu kommen. Damals waren die synästhetischen Vorstellungen der achtziger Jahre prägend. Es zählte nicht so sehr, ob einer Künstler, Architekt oder Designer war, sondern ob er aktuelle Beiträge zur gestalterischen Umformung der Welt liefern konnte. Und ob sie konnten! Roy Lichtenstein, David Hockney, Sam Francis, Norman Foster, Michael Graves, Arata Isozaki, Jean Nouvel, Gerhard Richter, Zaha Hadid, Richard Meier, Sol LeWitt, Matteo Thun, Oswald Mathias Ungers und Mimmo Paladino - die Reihe liest sich noch heute aufregend. Sie schufen großformatige Muster, Tuft- und Webteppiche, die nicht mehr Gleichförmigkeit ausstrahlten, sondern zu Elementen der Raumgestaltung wurden.

Manche der beteiligten Gestalter realisierten wie etwa Zaha Hadid mit Vorwerk erste Serienprodukte, andere überwanden lustvoll die Grenze zwischen der Kunst an der Wand und der „Welt zu Deinen Füßen". Dokumentiert wurden die Entwürfe in eine Publikationsreihe namens „Bodenreform". Und die schien schon damals unumgänglich. „Der Fußboden," schrieb 1988 Wolfgang Nagel im Manager Magazin, „war die neutrale Fläche, die alle Einfälle und Verwirrungen der Wohnungseinrichter geduldig ertrug. An den Boden dachten die Experten immer erst, wenn alles andere bereits feststand - ganz zum Schluss." So radikal neu der Ansatz, so begeistert die öffentliche Reaktion, gerade im Objektbereich war der Mut zu individueller Gestaltung der eigenen Räumlichkeiten damals weniger ausgeprägt. Nachdem Vorwerk damals Pionierarbeit leistete, ebbte die erste Welle postmoderner Raumgestaltung bald schon wieder ab.

Vorwerk-Teppiche, die in der Vergangenheit vor allem für ihre flachen, geschlossenen Flächen bekannt waren, bilden nun neue Strukturen am Boden. Teppich-Qualitäten mit unterschiedlichen Polhöhen schaffen neue Reize fürs Auge wie für den Tastsinn. Die Farbpaletten sind gegenüber früheren Kollektionen zurückgenommen und auf aktuelle Töne reduziert. Gefilzte Garnfäden aus neuseeländischer Schurwolle wachsen buchstäblich in den Raum. Der Teppich erscheint nun als dreidimensionales Element der Raumgestaltung, als ein neuer Baustein im Raum, der hilft, taktile Sinne zu schärfen. Es lohnt sich also, mal wieder den Boden zu erspüren. Oder wie Bazon Brock im eingangs zitierten Werk schrieb: „Vorwerk, eine Produktionsgemeinschaft, die Teppiche wachsen hört wie unsereiner das Gras in Fußballstadien."

Alle Fotos: Scale von Hadi Teherani für Vorwerk