100 JAHRE BAUHAUS
Perspektivwechsel als Nährboden
Es war einer der abertausenden Ausflüge, die man als Kind so erlebte: Mitte der Neunziger, sagen wir ich muss acht gewesen sein, als ich auf einem Familientrip den Wörlitzer Park kennenlernte. Das Gartenreich östlich von Dessau entstand Ende des 18. Jahrhundert im Auftrag von Fürst Franz von Anhalt-Dessau im englischen Stil, eingebettet in einen alten Seitenarm der Elbe. Damals ahnte ich nicht, dass es in unmittelbarer Nachbarschaft einen Ort gibt, der mein Leben ungleich stärker beeinflussen würde. 33 Jahre und dieses Stylepark-Special zum Anlass bedurfte es, bis ich den wohl wichtigsten Ort deutscher Design- und Architekturgeschichte erstmals aufsuchte.
Vorbei am heutigen Campus der Hochschule Anhalt geht es zum eigentlichen Bauhaus, einem Komplex aus mehreren zusammenhängenden Gebäudeteilen. Eingeweiht wurde der Bau 1926, als das Bauhaus aus Weimar weg nach Dessau zog. Anlass für den Umzug der 1919 von Walter Gropius gegründeten Schule war die neue deutsch-nationale Regierung, die 1924 in Thüringen gewählt wurde. Ihr passte die revolutionäre Denkweise der Akademie nicht ins Bild. Das Staatliche Bauhaus Weimar war passé, doch an der Idee hielt man fest: Im Gespräch für eine Fortführung des Bauhauses waren Städte wie Frankfurt am Main, Darmstadt oder Köln. Dass ausgerechnet Dessau zum neuen Standort wurde, ist zum Großteil dem damaligen Bürgermeister der Stadt, Fritz Hesse, zu verdanken, der sich von der Einrichtung Ideen für den sozialen Wohnungsbau erhoffte. Denn Dessau war seinerzeit eine aufstrebende Industriestadt, die Bevölkerungszahl wuchs entsprechend schnell. Für den Neubau des Schulgebäudes stellte die Stadtregierung eine Million Reichsmark zur Verfügung. Das Architekturbüro Gropius selbst wurde beauftragt, das Bauhausgebäude, die Meisterhäuser sowie die Siedlung Dessau-Törten und bald auch das neue Arbeitsamt der Stadt Dessau zu entwerfen.
Vom Bahnhof kommend trifft man heute zuerst auf das Ateliergebäude, einen von drei Flügeln, in die der Bau gegliedert ist. Hinter der weiß strahlenden Fassade waren auf vier Etagen 28 Studentenzimmer eingerichtet, 16 davon blicken mit eigenen kleinen Balkonen nach Osten, die restlichen zwölf sind zum gegenüberliegenden Werkstattflügel ausgerichtet. Ein Studentenwohnheim innerhalb des Hochschulgebäudes, ausgestattet mit Schränken, Bettnische, Tisch, Stühlen und Waschbecken – das war damals einmalig in Deutschland. Entsprechend begehrt waren die Apartments unter den internationalen Studierenden, auch Lehrende wohnten hier.
Hauptteil des Bauhausgebäudes ist der Werkstattflügel, der mit einer bis dato kaum gekannten Transparenz gestaltet war. Eine Stahlbetonstruktur, umhüllt von einer Glasvorhangfassade – plötzlich verschwinden Pfeiler aus dem Außenbild. Die Werkstätten besitzen absichtlich Fabrikcharakter, wollen mehr als Labor denn als Lehrraum verstanden werden. Die Architektur brachte die Studierenden auf Gestaltungsideen, die ihnen in einem klassischen Gebäude wohl so nie in den Sinn gekommen wären. Manche Studentenarbeiten wurden sogar Teil des Interieurs am Dessauer Bauhaus: Marianne Brandt und Hans Przyrembel beispielsweise entwarfen die Zugpendelleuchten in den Werkstätten, Max Krajewskis Leuchteninstallation ziert das Treppenhaus – das Leuchtmittel als Teil der Gestaltung zu betrachten, so wie er es tat, war damals eine Revolution. Auch der frühere Bauhausschüler Marcel Breuer, der einst als 18-jähriger Überflieger ans Weimarer Bauhaus kam, lieferte seinen Beitrag zum Gebäude. Die Aula, die sich im Übergang zwischen Werkstattflügel und Ateliergebäude befindet und sich bei Bedarf dank einer riesigen Falttür mit der danebenliegenden Kantine verbinden lässt, stattete er mit textilbespannten Stahlrohrmöbeln aus. Und in der Kantine stehen Breuers Hocker "B9", die heute von Thonet produziert werden.
Ebenso beeindruckend wie die Architektur ist die Farbgestaltung des Gebäudes, die zum Großteil auf den Weimarer Bauhausschüler Hinnerk Scheper zurückgeht, der ab 1925 als Jungmeister die Farbwerkstatt in Dessau leitete. Aufgesprühter Aluminiumanstrich, verschiedene Strukturen und Farbe als Orientierungsmittel: So komplex war die Gestaltung mithilfe von Farbe, die inzwischen in mühevoller Restaurationsarbeit so originalgetreu wie möglich wiederhergerichtet werden konnte.
Eine Gebäudebrücke führt zum Nordflügel, in dem neben dem Bauhaus die Gewerbliche Berufsschule Dessau untergebracht war. Der Gebäudeteil wurde deutlich schlichter gehalten. Doch profitiert auch er von den zahlreichen Blickachsen zwischen den einzelnen Flügeln. In die obere Ebene der Brücke zog ab 1927 die neu gegründete Bauabteilung ein, die vom späteren Direktor Hannes Meyer geleitet wurde. Darunter befand sich die Administration der beiden Schulen – in der Mitte das Direktorenzimmer des Bauhauses.
In den damaligen Schulalltag kann man sich heute nur schwer hineinversetzen. Beim Besuch des Bauhauses wird dennoch eines deutlich: Bauhaus, das sind nicht nur klare Linien und Gestaltung nach dem Prinzip "form follows function". Claudia Perren, Direktorin der Stiftung Bauhaus Dessau, möchte in diesem Zusammenhang mit einer verkürzten Sichtweise aufräumen: "Für viele steht das Bauhaus einfach für reduzierte, kubische, weiße Bauten auf der einen und ikonische Design-Objekte wie die Wagenfeld-Leuchte auf der anderen Seite. Das Bauhaus war aber in erster Linie eine Schule. Es ging darum, zeitgemäße Ansätze zu erproben, um eine neue Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Dazu brauchte es auch neue Formen der pädagogischen Auseinandersetzung." Mit der Bauhaus-Pädagogik habe sich daher auch das erste Jubiläumsfestival der Stiftung, "Schule Fundamental", im März beschäftigt. "Wir wollten herausfinden, auf welche Weise uns Bauhaus-Ideen zur Schule auch heute noch inspirieren können und welche alternativen Schulmodelle sich international entwickelt haben. So haben wir in einem 'Parlament der Schulen' im Rahmen dieses Festivals Beispiele aus Jakarta, New York, Valparaíso, Tokio und vielen anderen Orten diskutiert."
Für das neuartige Schulkonzept, das beabsichtigte, die Disziplinen Bildhauerei, Malerei und Architektur zu vereinen, brachte Walter Gropius bereits in Weimar die internationale Avantgarde zusammen: Wassily Kandinsky, Paul Klee, Lyonel Feininger, László Moholy-Nagy, Oskar Schlemmer, Gerhard Marcks, Johannes Itten. Und auch in Dessau waren weiterhin einige dieser Namen vertreten. Für sie errichtete Gropius etwa zehn Minuten fußläufig vom Bauhaus entfernt neben seinem eigenen Direktorenhaus die sogenannten Meisterhäuser.
Das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Haus des Direktors und die drei Doppelhäuser für die Meister sind seit einigen Jahren wieder öffentlich zugänglich. Während die erhalten gebliebenen Meisterhäuser aufwendig restauriert worden sind, wurde für Gropius' Haus und die benachbarte, ebenfalls zerstörte Haushälfte von László Moholy-Nagy ein anderer Weg gewählt. Das Berliner Architekturbüro Bruno Fioretti Marquez ersetzte sie 2014 durch Interpretationen aus Sichtbeton mit einer Kubatur, die dem jeweiligen Original entspricht, innen aber komplett aufgebrochen wurde. Der Künstler Olaf Nicolai greift in seiner Wandarbeit "Le pigment de la lumière" die Bedeutung der Farbgestaltung für das Bauhaus auf. Jedoch verwendet er nicht Farben, sondern Texturen zur Gestaltung der Oberflächen. Die einstige Raumstruktur der Häuser muss man sich gedanklich vorstellen.
In den erhaltenen Meisterhäusern erkennt man, wie viel Platz für Individualität auch in vereinheitlichten und vereinfachten Strukturen noch bleibt. Die Doppelhäuser bestehen jeweils aus zwei um 90 Grad zueinander gedrehten und gespiegelten Grundrissen. Küche, Ess- und Wohnzimmer befinden sich unten, oben der mit 45 Quadratmetern größte Raum, das Atelier mit riesiger Fensterfront, daneben Schlaf- und Badezimmer sowie weitere kleine Zimmer unter dem Dach. Wie die Einrichtung der Häuser, so war auch die Farbgestaltung individuell – in jeder Hinsicht aber intensiver als im Bauhausgebäude, betrachtet man etwa Kandinskys Haus, dessen Esszimmer schwarz, manche Türrahmen gold, dessen Wände mal fliederfarben und mal türkisfarben sind. Im April wurde das Meisterhaus Kandinsky / Klee nach erneuter Restaurierung wiedereröffnet. Trotz intensiver Wiederherstellungsarbeit lässt es sich dennoch nur vage vorstellen, wie es gewesen sein muss, als weltbekannte Avantgardegruppe – man würde sie heute Influencer nennen – eingebettet in einen Kiefernwald Haustür an Haustür zu leben.
Lässt sich die kurze Bauhausphase überhaupt ansatzweise nachempfinden, frage ich Claudia Perren. "Das historische Bauhaus, genauer die Bauhaus-Schule, existierte ja tatsächlich nur 14 Jahre, von 1919 bis 1933. Hier in Dessau erlebte die Schule ihre produktivste Zeit. Das zeigt sich unter anderem in den zahlreichen Bauten. So sind das Schulgebäude, die Meisterhäuser oder auch die Siedlung Dessau-Törten Prototypen für ein radikal neues Verständnis von Bauen und Architektur. Hier lässt sich an vielen Details nachempfinden, mit welchen Fragen und Anforderungen sich die Bauhäusler auseinandergesetzt haben."
Was bleibt? Wieviel Bauhaus steckt in zeitgenössischem Design und heutiger Architektur? "Das Bauhaus war von Beginn an Teil einer Moderne, die regional wie international vernetzt war und in vielen Bereichen ein neues Denken mit sich brachte", sagt Claudia Perren. "Unter anderem ging es darum, Wohnraum oder auch tägliche Gebrauchsgegenstände funktional so zu gestalten, dass der allgemeine Lebensstandard verbessert wurde. Dazu sollten die neuesten technischen Möglichkeiten effektiv genutzt werden. Dieses Verständnis von Modernität kann nach wie vor als wichtiger Bezugspunkt von Design und Architektur gelten. Und auch der Anspruch, jeweils neue Antworten auf aktuelle Gestaltungsanforderungen zu finden, bleibt aktuell. Experimentieren, Ausprobieren und Testen spielten dabei eine große Rolle – und das ist sicher auch heute noch zeitgemäß."
Es wird viel gefeiert in diesem Bauhausjahr. Filme erinnern an die Zeit in Weimar, Dessau und zuletzt in Berlin. Hersteller kramen ihre von Bauhausschülern und -lehrern entworfenen Klassiker hervor. Doch um tatsächlich zu verstehen, welche Magie in diesem Ort steckt, der dafür geschaffen wurde, den Blickwinkel zu wechseln, dessen Überzeugungen später an Schulen wie dem Black Mountain College in North Carolina (USA) fortgelebt wurden, muss man einmal dagewesen sein. Auch wenn Gropius selbst von einem Begriff wie einem "Bauhausstil" immer Abstand hielt, den Prinzipien des Bauhauses begegnen wir noch heute im Designstudium und im Studium der Architektur. In wenigen Jahren feiert Dessau einen weiteren Höhepunkt – dann wird der Einzug in das dortige Bauhaus einhundert Jahre her sein. Ich feiere – bereits heute – meine neue Erkenntnis über Nähe und Distanz!
Mehr Informationen zum Bauhausgebäude erhalten Sie in "Bauhaus Dessau. Architektur Gestaltung Idee", erschienen 2007 im Jovis Verlag, Berlin.