„Man kann sich nach dem Gang über die Bambusbrücke auf einen Bambusstuhl an den Bambustisch in einem Bambushaus setzen, während man den Bambushut auf dem Kopf und seine Bambussandalen an den Füßen trägt. Mit Bambusstäbchen isst man leckeren Bambussprossensalat und genehmigt sich dazu einen kräftigen Bambusschnaps." Das schrieb William Edgar Geil 1904 in seinem Reiseroman „A Yankee on the Yangtze". Tatsächlich wird Bambus in China seit Jahrtausenden als Material für Häuser und Gegenstände verwendet, gleichzeitig dient er als schmackhaft zubereitbares Lebensmittel. Er prägt chinesische Landschaften, wie etwa die Hügel um Anji in der Provinz Zhejiang. Wer die chinesische Landschaftsmalerei auch nur oberflächlich kennt, weiß, dass auch sie ohne Bambus nicht denkbar ist. Bambus ist in der chinesischen Tradition verwurzelt, bis in die Gegenwart hinein. Ich werde die in europäischen Augen atemberaubenden Gerüstkonstruktionen nie vergessen, die ich vor zwanzig Jahren in Hongkong noch an jeder Baustelle im Einsatz gesehen habe. Diese Gerüste sind im Übrigen die beste Werbung für Bambus, zeigen sie doch, welche Eigenschaften Bambus besitzt: Er ist zäh, hart, druck- und zugfest, dabei biegsam und leicht, und er wächst gewissermaßen im eigenen Garten. Oder man denke an Ang Lee's vielfach ausgezeichneten Film „Crouching Tiger, Hidden Dragon". Bambus ist, das darf man wohl auch als Europäer mit einigem Recht vermuten, ein wesentliches Element der chinesischen Identität. Doch wie wird Bambus in Europa wahrgenommen? Welche Rolle spielt Bambus dort? Die allgemeine Wahrnehmung von Bambus wird bestimmt davon, was die Menschen in ihrem Alltag davon sehen, in welchem Kontext und in welcher Verarbeitungsform sie Bambus erleben. Das allgemeine Wissen über Bambus in Europa, und nota bene in Deutschland, ist eher dürftig und oberflächlich. Es sind vor allem Bodenbeläge und Möbel, die man dort mit Bambus verbindet, sie sind die wohl häufigste und gebräuchlichste Erscheinungsform von Bambus; die meisten Menschen kennen vermutlich nicht den Unterschied zwischen Bambus und Rattan. Bambusmöbel sind in Europa, ökonomisch ausgedrückt, Nischenprodukte, und das hat seine Gründe. Bambus hat, nüchtern und rational betrachtet, eine ganze Reihe von Eigenschaften, von denen einige aktuell hoch im Kurs stehen. Bambus ist nicht nur hart, zäh und biegsam, wie eingangs erwähnt, er lässt sich auch umweltverträglich entsorgen und wächst sehr schnell nach. Eigenschaften also, die ihn zu einem ökologischen Hoffnungsträger machen müssten – einerseits. Andererseits ist da die Morphologie des Bambus. Seine charakteristische und einprägsame Form ist hoch ikonisch, das heißt sie ist in jeder Lage, in jedem Zusammenhang und an jedem Ort wiederzuerkennen und leicht zu identifizieren. Die Zeichenhaftigkeit von Bambus, seine Unverwechselbarkeit ist zwar ein Traum für jeden Markenentwickler und Brand Consultant, für das Produkt Bambus ist es jedoch ein großes Handicap. Denn entscheidend bei einem starken Zeichen ist die Konnotation, und diese ist im Falle von Bambus nicht vorteilhaft; es gibt dafür sogar einen phänomenologisch korrekten, wenn auch wenig schmeichelhaften Begriff: man spricht von „Knotenstock-Ästhetik". Während auf den internationalen Möbelmessen in Mailand, Köln und New York jedes Jahr zahllose neue Möbel aus Holz in unendlich vielen Formen, Farben und Materialkombinationen präsentiert werden, gleichen Möbel aus Bambus immer – Möbeln aus Bambus. Ästhetisch werden Bambusmöbel deshalb in die kunsthandwerklichen Kategorien „Folklore" und „Exotik" eingeordnet. Ein weiteres europäisches Charakteristikum ist die Hygiene. Der Zivilisationsprozess hat in Europa ein historisches Bedürfnis nach Hygiene hervorgebracht, das mit Vernunft allein nicht erklärt werden kann. Deshalb sind die meisten Oberflächen der Möbel geschlossen und glatt, wenn nicht glänzend. Sie müssen stets den Eindruck von Sauberkeit und leichter Reinigung vermitteln, unabhängig davon, ob sie wirklich sauber sind. Auch darin liegt ein Handicap von Bambusprodukten. Dieses Image ist keineswegs nur in Europa ein Problem. Devesh Mistry, Absolvent des National Institute of Design in Ahmedabad, dämpft die Erwartungen auf eine Bambus-Renaissance: „Wir haben zwar eine ungeheure Tradition, ... aber in die Gegenwart will das doch kaum ein Gestalter der jungen Generation bringen. Hier in Indien wirkt Bambus schlicht altmodisch." Diese Einschätzung gibt es nicht nur in Indien, sondern auch in anderen Ländern auf dem so genannten „Bamboo-Belt", wie zum Beispiel in Brasilien. Die Situation in der Architektur unterscheidet sich von jener im Design allein schon dadurch, dass Bambus-Architektur im Alltag der Menschen praktisch nicht vorkommt, jedenfalls nicht in der Form erlebbarer Gebäude. Ihre Erscheinungsformen werden stärker von technischen Aspekten – Tragwerk, Statik, Haustechnik und so weiter – bestimmt. Und in puncto Tragwerk kommt dem Bambus seine Eigenschaft als genuines Konstruktionsmaterial zugute. Es gibt eine ganze Anzahl wissenschaftlicher Institute, Arbeitsgruppen und einzelner Architekten und Bauingenieure, die sich mit der Erforschung des Potenzials von Bambus beschäftigen. In einer Zeit, in der die Nachfrage nach regenerierbaren Energieformen und nachwachsenden Rohstoffen drängender und staatlicherseits auch verstärkt gefördert wird, rückt Bambus wieder stärker in den Fokus. So beschäftigt sich zum Beispiel der Lehrstuhl für Tragkonstruktion an einer der größten technischen Universitäten in Deutschland, der RWTH in Aachen, seit Jahren intensiv mit Bambus. Es werden Bambusbau-Symposien, internationale Ausstellungen und Bambusworkshops veranstaltet. Besonders gute Beispiele, wie man heute Bambus in der Architektur praktisch einsetzen kann, liefert der kolumbianische Architekt Simón Vélez, der auf der Weltausstellung 2000 in Hannover mit einem Gebäude aus Bambus Aufsehen erregt hat und dafür ausgezeichnet worden ist. Er hat einige kongeniale Bambus-Architekturen in Kolumbien errichtet. „Der Fehler einiger Architekten ist es", so Vélez, „Bambus wie Holz zu behandeln." Er selbst versuche „bambusgerecht" zu planen und die Eigenheiten des Materials auszureizen. Deshalb stellen seine Projekte selbst oft eine Art Versuchsmodell dar, bei dem das fertiggestellte Tragwerk vor Ort auf seine Belastungsfähigkeit getestet wird. Ein naheliegendes Beispiel für eine wegweisende Verwendung von Bambus in der Architektur ist das „Deutsch-Chinesische Haus", das 2010 auf der Expo in Shanghai errichtet wurde. Das Gebäude ist eine selbsttragende, zweigeschossige Konstruktion aus Bambus mit einer begehbaren Fläche von 330 Quadratmetern über zwei Etagen. Das Gebäude ist umweltfreundlich und mobil: Es kann zerlegt und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden. Die eingesetzten Materialien sind wiederverwendbar oder recycelbar. Der Innenraum dieses Gebäude beweist, dass Bambus – zum Beispiel in Verbindung mit anderen Materialien – sein folkloristisch-kunsthandwerkliches Image überwinden kann und die "Knotenstock-Ästhetik" kein unabwendbares Schicksal sein muss. Und es zeigt auch, dass Bambus bei der Planung temporärer Bauten eine bedeutende Rolle spielen kann. Das „Deutsch-Chinesische Haus" ist als chinesisch-deutsche Kooperation realisiert worden. Unter dem Strich ist es so: Der Stellenwert von Bambus als Werkstoff außerhalb Chinas ist ambivalent. Es ist jedenfalls keine Frage der Quantität, also der verfügbaren Menge wie in manchen anderen Bambus-Ländern. China hat es immerhin geschafft, binnen zwanzig Jahren die Anbaufläche um mehr als 25 Prozent auf 4,2 Millionen Hektar zu vergrößern, während andere Länder fast nichts unternommen haben. China hat sich damit einen erheblichen Vorteil verschafft. Die Ambivalenz hat vielmehr mit der Frage zu tun, wie man eine Akzeptanz für dieses Material herstellen kann – in verschiedenen Lebenswelten mit unterschiedlichen Wertvorstellungen. Die Kluft zwischen den ökologischen Potenzialen von Bambus einerseits und den global verbreiteten ästhetischen Idealen vor allem der jüngeren, von iPhone und Nike geprägten Generationen andererseits, ist riesig – es ist tatsächlich ein Clash of Cultures. Wenn Bambus als Material über den „Bamboo-Belt" hinaus expandieren will, muss man sich dieser Frage stellen und Antworten finden. Angesichts des rasanten Wandels ist China das beste Beispiel für die Dynamik dieser ästhetischen Differenzierung. Kürzlich hat der Vize-Bürgermeister von Anji, Herr Jin Kai, erwähnt, dass die Stadt eine neue Fachschule plane, und zwar im Sinne einer Werkstatt. Das heißt, ein Ort, an dem über Dinge nicht nur geredet und gelesen wird, sondern ein Ort, an dem Dinge hergestellt und erfahren werden sollen. Dies scheint mir ein richtiges Zeichen für die Zukunft in Anji zu sein. Denn erst in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Material lassen sich dessen Grenzen und Möglichkeiten kennen lernen. Hier liegt meines Erachtens der Schlüssel für eine Weiterentwicklung und Anpassung des Materials Bambus an die sich dynamisch verändernden Lebensverhältnisse und Wertvorstellungen überall auf der Welt, nicht nur in China. Es wäre vermessen, wollte ich Ratschläge erteilen, aber müsste ich eine To-do-Liste anfertigen, hätten zwei Maßnahmen hohe Priorität: zum einen die Einrichtung eines Labors zur empirischen Grundlagenforschung über Bambus, zum anderen die Etablierung eines Versuchslabors zur Entwicklung, Erprobung und Herstellung von Prototypen. Aufgabe des einen Labors wäre die Erforschung aller relevanten Materialeigenschaften nach internationalen Standards, bambusspezifische Materialkombinationen, Verbindungen und Oberflächenveredelung. Aufgabe des zweiten Labors müsste die Übertragung und Anwendung der Forschungsergebnisse, die Entwicklung bambusspezifischer Produkte und Problemlösungen sein, auch unter Einbeziehung externer Designer und Architekten. In Orten wie Anji wächst Bambus, dort liegt das Knowhow, dort ist der Bambus im Leben der Menschen verankert. Ich bin fest davon überzeugt, Bambus muss gerade wegen seiner langen und eindrucksvollen Tradition für die gewandelten Ansprüche von heute und morgen wieder neu erforscht und neu entwickelt werden. Keine leichte Aufgabe, aber eine überaus reizvolle und lohnende Herausforderung. Egon Chemaitis war bis 2011 Professor der Universität Künste Berlin und führt ein Designbüro unter seinem Namen in Berlin.
Bambusgerecht bauen
von Chemaitis Egon | 12.03.2012
Vorbildlich auch für westliche Designer: einfache und intelligente Alltagslösungen mit Bambus, Foto © Egon Chemaitis
Vorbildlich auch für westliche Designer: einfache und intelligente Alltagslösungen mit Bambus, Foto © Egon Chemaitis
Bambus als Verpackungsmaterial: ressourcenschonend, nachhaltig und ästhetisch, Foto © Egon Chemaitis
Detail einer Handrolle, Ming-Schule, Quelle © The Yorck Project
Bambus ist zäh, hart, druck- und zugfest, Foto © Egon Chemaitis
Das Material wächst schnell nach lässt sich umweltverträglich entsorgen, Foto © Egon Chemaitis
In China allerorts anwesend, Foto © Egon Chemaitis
Bambus-Floß, Foto © Egon Chemaitis
Möbel aus Bambus: Wird er sein folkloristisch-kunsthandwerkliches Image überwinden?, Foto © Egon Chemaitis
Bambusgerechte Anwendung: Das Material ist nicht nur leicht, sondern auch extrem biegsam, Foto © Egon Chemaitis