Stylepark Axor
Wer die Wahl hat …
Das Konzept der menschlichen Individualität halten wir für selbstverständlich. Dabei ist die Vorstellung vom Individuum als einer „unteilbaren Einheit“, was das lateinische Wort besagt, Resultat einer langen historischen und sozialen Entwicklung. Philosophen beschäftigen sich seit der Antike mit Fragen des Individuums. Erst mit Renaissance, Aufklärung und Moderne wurde ihm als gesellschaftlichem Wesen zunehmende Aufmerksamkeit zuteil. Politische Versuche, den Einzelnen als Teil einer Gemeinschaft in Dienst zu nehmen, endeten nicht selten in totalitären Bewegungen. Die Respektierung bürgerlicher Eigentumsrechte und politischer Partizipation des Individuums wurde zur Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung.
Die Entfaltung individueller Wünsche und Erwartungen blieb Wenigen vorbehalten. Umgekehrt fällt uns heute schwer, Willen und Vorstellungswelt einzelner Menschen außerhalb wirtschaftlicher Bezugssysteme zu denken. Mit dem Aufkommen industrieller Produktion und kapitalistischer Wirtschaftsweise wandelten sich vom Menschen geschaffene Artefakte zunehmend in seriell gefertigte und vermarktbare Produkte. Was wir heute als Maßgaben guter Gestaltung kennen, begann als Kritik an mangelhaften Produkten, die zunächst aussahen wie handgefertigt, aber der maschinellen Produktion nicht gerecht wurden und daher weder brauchbar waren, noch ästhetischen Erwartungen entsprachen. Die „Arts and Crafts“-Bewegung in England, der Werkbund in Deutschland, Österreich und der Schweiz setzten sich kritisch mit einer Objektwelt auseinander, der eine eigene Kultur fehlte.
Langsam etablierten sich Standards der Industrieproduktion, unerlässlich für die Entwicklung von massenhaft gefertigten Produkten – und wenig aufgeschlossen für die Wünsche des Einzelnen. Mit dem Jahrzehnte lang produzierten „Model T“ realisierte Henry Ford ein Auto, das am Fließband aus möglichst immer gleichen Teilen zusammengesetzt, in Herstellung und Verkaufspreis im Laufe der Jahre immer billiger wurde. Zugleich war die Zahl der Varianten eher überschaubar, was Ford in seiner Autobiografie im viel zitierten Satz zusammenfasste: „Any customer can have a car painted any color that he wants so long as it is black.“ Dass die Lackierung des T-Modells lediglich in schwarz vorgesehen war, entsprach der Produktions- und Vertriebslogik jener Zeiten.
Während der 1970er Jahre erblühte die Produktwelt erstmals in Farbe, vom Kunststoff-Türgriff über die Schreibmaschine bis zum Möbel und dem Automobil.
Zugleich galt die Produktkultur als weitgehend egalitär, mit wenigen Ausreißern nach oben und unten. So schrieb Andy Warhol: „A Coke is a Coke and no amount of money can you get a better Coke than the one the bum on the corner is drinking.“ Die Zeiten, dass der Konsument aus einer Vielzahl von differenzierten Produkten auswählen kann, die Möglichkeiten der spezialisierten Kundenbindung, des „Upselling“ und von „Big Data“ standen erst noch bevor.
Computerisierung und Mobilisierung der Gesellschaft zur Erfindung mündeten in einer Vielzahl von Ich-Maschinen: An die Stelle von Mainframe-Rechnern trat der Personal Computer. Das Transistor-Radio fand im Walkman seinen aufs Individuum abzielenden Nachfolger. Aus dem Mobiltelefon wurde das Smartphone, das heute als individualisierbarer Schlüssel zu digitalen und analogen Bestandteilen der Welt dient. Ganz gleich, ob es zum Musikhören, Filmesehen, zur Steuerung von Licht und Heizung oder dem voreingestellten Duschprogramm dienen mag. Selten zuvor boten mehr Geräte und Dienste den individuellen Zugang über ein einziges Medium. So sehr sich Smartphones äußerlich ähneln, so sehr basiert ihre Nutzbarkeit auf der individuellen Wahl aus einer Vielzahl von Applikationen. Ganz zu schweigen von Hüllen, Schutzfolien und gestalterischen Optionen, die dazu dienen, aus dem Massenprodukt ein individuell überformtes Gerät zu machen, das es in eben jener Konstellation nur ein einziges Mal gibt.
Mit den sogenannten smarten Geräten und entsprechend gestalteten Dienstleistungen verändern sich Wahrnehmung, Diskursstruktur und Entscheidungsabläufe und psychosoziale Dispositionen. An die Stelle der Schriftkultur tritt eine Kultur der Bilder, die womöglich bald schon durch Sprachbefehle und Gestensteuerung ergänzt und überlagert wird. Der spürbaren Tendenz zur Dematerialisierung steht eine neue Abhängigkeit von digitalen Netzen, Dienstleistungen und Vertragsbeziehungen gegenüber, die jedes Individuum eingeht, das an den neuen smarten Auswahlmöglichkeiten teilhaben möchte. Längst ist Individualisierung mehr als Bildung und Verknüpfung neuer Produkt- und Dienstleitungsvarianten.
Auch im Möbeldesign experimentieren neue wie bekannte Akteure mit den veränderten Möglichkeiten, Handwerk und Serienproduktion zu vereinen und den Auswahlprozess ins Internet zu verlegen. Was bei der Zusammenstellung eines Neuwagens längst üblich ist, nämlich das Möbel individuell im Internet zu konfigurieren, bietet das polnisch-deutsche Unternehmen Tylko auch für die Bestellung des Hub-Tisches, entworfen von Yves Behar, an. Größe, Beschaffenheit und Aussehen lassen sich per Schieberegler auf der Unternehmenswebsite individuell anpassen. Auch Form und Aussehen der Beine lassen sich variieren. Trotz der gestalterischen Vielfalt ermöglicht Tylko sogar die Rückgabe eines nach individuellen Vorgaben gefertigten Tisches. Noch nicht ganz so weit sind der britische Designer Tom Dixon und der Einrichtungsriese Ikea. Während der Mailänder Möbelmesse präsentierten beide Kooperationspartner ihr Projekt „Delaktig“. Von Ikea-Hacking ist die Rede. Der Begriff wurde bislang gebraucht, um bestehende Kollektionen individuell anzureichern und zu verbessern. Diese Aktivitäten holt sich Ikea nun ins eigene Haus. Tom Dixion lud Studenten aus Tokio, London und New York ein, eine modulare Basis aus Aluminiumprofilen, die als Sofa, Bett oder Sessel dienen kann, durch ergänzende Bauteile aufzuwerten und zu verändern. Laut Dixon reichen die Modifikationen bis hin zum Rettungsfloß oder modularen Rückzugsorten. Ikea Chef-Designer Lars Engmann sprach anlässlich der Präsentation von einer neuen „Plattform“, mit der man die Polstermöbelindustrie herausfordern wolle. Angesichts der in Mailand präsentierten Qualität der Prototypen erscheint dieses Ziel allerdings ausgesprochen ambitioniert zu sein. 2018 soll „Delaktig“ an den Start gehen.
Ist die Idee der Individualisierung eher vom Marketing eines Unternehmens gesteuert, als vom Design inspiriert? Tom Schönherr, Managing Partner und Founder von Phoenix Design widerspricht. „Jeder möchte sich ausdrücken und einmalig sein. Das ist geradezu ein Grundbedürfnis. Wenn man industrielle Produkte hat, kann man sie durch Kombination oder Veränderung von Oberflächen noch ein bisschen persönlicher machen.“ Daraus resultiere, so der Designer, eine neue „Harmonie zwischen dem einzelnen Produkt und seiner Umgebung.“ Wie sich Digitalisierung und Individualisierung speziell im Bad auswirken? „Da stehen wir noch ganz am Anfang. Es könnte ähnlich sein wie beim Auto, das den Fahrer erkennt und alle Parameter passend einstellt.“ Bezogen aufs Bad könnte das heißen: Es erkennt die Wünsche des Nutzers, was Atmosphäre, Lichtfarbe, Helligkeit oder Wassertemperatur betrifft. Altmodisch, ja unzeitgemäß erscheint da, wer versucht, seine Persönlichkeit eher in Abgrenzung von Verführungen und Optionen gestalterischer Individualisierung zu behaupten. Auch dies ist schließlich eine Variante, die zur Wahl steht.