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Avantgardist der Behaglichkeit

Michele De Lucchi ist „A&W Designer des Jahres 2015“. Doch wer ist Michele De Lucchi? Ein letzter Vertreter der Postmoderne, Traditionalist oder doch Mann der Gegenwart? Ein dezidierter Blick auf den Designer UND Architekten.

Welchem Jahrhundert, welcher Epoche Michele De Lucchi tatsächlich angehört, ist nicht leicht festzustellen. Mal sind seine Entwürfe absolut modern, wirken ausgesprochen zeitgenössisch, andere – beinah zeitgleich entstanden – nehmen historische Anleihen, zielen auf Handwerk und traditionellen Formenkanon. Wer ist Michele De Lucchi? Ein letzter Vertreter der Postmoderne, der das Neue in einen vertrauten Kontext einbetten möchte? Ist er Traditionalist reinsten Wassers? Oder doch ein Mann der Gegenwart, der nach der heute gültigen Lösung sucht? Allen, die es einfach und schubladenhaft mögen, entzieht sich der Architekt und Designer. Ihn umgibt eine Sphäre des Rätselhaften.

1951 in Ferrara geboren, ging er dann nach Florenz, um unter anderem bei Adolfo Natalini zu studieren. De Lucchi war nie einer der Stars. Nun hat ihn die Zeitschrift „Architektur & Wohnen“ zum „A&W Designer des Jahres 2015“ gekürt. Da lässt sich fragen: Warum jetzt erst? Doch der Zeitpunkt könnte günstiger kaum sein: Nicht nur wegen der Expo Mailand 2015, die von Mai bis Oktober stattfindet, für die De Lucchi Pavillons, Eingangsbereiche, Tische und vieles andere mehr gestaltet. Überhaupt scheint der 63-Jährige zum idealen Vorbild gegenwärtigen Designs zu taugen. Rückzug wie Zusammenarbeit, Experiment wie Unikat prägen heute seine Entwurfstätigkeit. Vielseitig präsentiert er sich als Architekt.

Admiral und Alchimia

Blättert man durch die aktuelle Ausgabe der A&W (1/2015), in der Autorin Elke von Radziewsky den „A&W Designer des Jahres“ portraitiert, bilden die Fotos von Regina Recht einen Mann mit langem Bart ab, der sich durch vorwiegend dunkle Räume bewegt, in denen warme Holzfarben dominieren. In ihrem klugen und lesenswerten Text würdigt ihn die Autorin als „forschenden Grenzgänger“. Sie benennt historische Wegmarken in Leben und Werk. Etwa 1973, wo De Lucchi die Eröffnungsfeierlichkeiten der XV. Triennale in Mailand zu einer Performance umfunktioniert. Um den Hals trägt er ein Schild „Designer in generale“ und ruft aus: „ascoltate me, ascoltate me: Io sono un designer in generale, e in generale un designer.“ Er tritt in Admiralsuniform auf, entstammt sie dem Risorgimento, jener Epoche der italienischen Staatswerdung zwischen 1815 und 1870, die bis heute als unvollendetes Projekt erscheint? Jedenfalls werden Ettore Sottsass und Andrea Branzi, Kuratoren der Designabteilung jener Triennale auf den 22-jährigen Gestalter aufmerksam. Mitte der 1970er Jahre wirkt De Lucchi in der Gruppe „Cavart“ mit, die zum Radical Design gehört und Konzeptkunst mit Architektur verbindet. Mit hölzernen Gestellen und Türmen, die mit wehenden Tüchern versehen sind, ziehen sie durch die Landschaft.

Mit dem Wechsel nach Mailand 1977 und durch Freundschaft insbesondere zu Ettore Sottsass, gelangt er in die Gruppen „Alchimia“ und ist 1981 Mitgründer von „Memphis“. Den als Architekten ausgebildeten Designern geht es darum, nicht länger nach der Pfeife der Industriellen zu tanzen. Die Farb-, Form- und Oberflächenstruktur ihrer Entwürfe bildet ein wiedererkennbares Zeichensystem, das die entstehende Mediengesellschaft begierig aufnimmt. Im Laufe der 1980er Jahre ebbt der Schock der Erneuerung langsam ab, den „Memphis“ ausgelöst hatte. Zugleich bildet sich eine neue, vertiefte Art der Zusammenarbeit zwischen Designern und Unternehmern heraus, die ähnlich wie die Gestalter an der Neubestimmung des Designs Interesse haben. Anders als heute in vielen Firmen üblich, delegieren sie Design nicht ans Marketing, sondern machen es zur Chefsache. Zu ihnen gehörten in Italien etwa Ernesto Gismondi und Alberto Alessi. Für Gismondi und damit Artemide entwirft Michele De Lucchi 1986 (zusammen mit Giancarlo Fassina) die Schreibtischleuchte „Tolomeo“. Noch heute wird sie rund 500.000 Mal pro Jahr verkauft, mittlerweile gibt es eine ganze Leuchtenfamilie. Charakteristisch sind ihre verdeckt angebrachten Federn, die sichtbare Stahlseilabspannung der beweglichen Arme sowie der drehbare gebürstete Aluminiumschirm, in den ursprünglich die Glühbirne seitlich eingeschraubt wurde. „Frugale Technologie“ nennt De Lucchi das knapp. Heute gibt es Versionen für Halogen- und LED-Lampen. Die Leuchte trägt dazu bei, De Lucchi eine für Designer ungewöhnliche materielle Unabhängigkeit zu sichern. Mit Sottsass, der ihn 1979 ins Team der Büromöbel-Designer von Olivetti holt, arbeitet er weiter zusammen. 1992 übernimmt De Lucchi die Leitung des externen Olivetti-Designteams.

Vom „Chioso" in die weite Welt

Mitte der 1980er Jahre nimmt das architektonische Werk De Lucchis in Japan seinen Anfang. Vielen Entwürfen stehen wenige realisierte Wohn- und Geschäftshäuser gegenüber. Die meisten seiner Bauten haben zu dieser Zeit natürliche Baumaterialien, nicht, um Wohlstand und Luxus zum Ausdruck zu bringen, wie De Lucchis Frau Sibylle Kicherer in einer Monographie 1992 schreibt, sondern „um zu zeigen, dass alles Gebaute auf Erde zurückgeht und letztlich irdisch bleibt“.

Während in der Designszene spekuliert wird, ob nun, zu Beginn der 1990er Jahre nicht ein neues „Memphis“ längst fällig wäre, zieht De Lucchi andere Konsequenzen: In Laboratorien für Keramik, Marmor, Holz und Metall, für „minimalistische Maschinen“, Ready-mades und geblasenes Glas fertigt er seine „Produzione Privata“. Er entwickelt mithilfe von Designern und Handwerkern eine Kollektion limitierter Leuchten, Möbel und Objekte, die es ihm erlaubt, übliche Restriktionen der Serienproduktion außer Acht zu lassen. Eskapismus? Flucht vor der Alltagswelt wie sie wirklich ist? Zumindest ist es ein Rückzug auf Zeit, ein Gegenpol. Neben der Realität der städtischen Entwurfsmaschinen, neben dem Mailänder Großraumbüro mit vielen Jungdesignern und Architekten aus aller Welt, lebt Michele De Lucchi mit Familie in Angera in Varese in seinem Handwerks-, Experimentier-, Wohn-, Zeichen- und Sammelort „Il Chioso“. Doch diese freundlich-klösterliche Abgeschiedenheit ist ein unverzichtbarer, aber eben nicht alleiniger Teil der Lebenswelt des „Gesamtkunstwerklers“ (so A&W-Chefredakteurin Barbara Friedrich).

Immer wieder hat Michele De Lucchi Strategien gewechselt, berufliche Partnerschaften und Schwerpunkte seiner Praxis verändert, nicht immer freiwillig. Die japanische Deflationskrise stoppte seine Projekte dort. Die noblen Filialkonzepte, die er später für die Deutsche Bank und die Deutsche Bahn geschaffen hatte – lange Zeit zusammen mit dem deutschen Designer Torsten Fritze und mit dem britischen Architekten Nick Bewick –, sind in Zeiten der Digitalisierung aufgelöst oder gröberen Ersatzbauten geopfert worden. Beendet ist auch das Bauexperiment mit dem designbegeisterten Staatschef Micheil Saakaschwili, der den Architekten zwischen 2004 und 2013 nach Georgien lockte. De Lucchi errichtete in Tiflis die nachts mit LED hell erleuchtete „Brücke des Friedens“, Ministerien mit einer vorgespannten, hautartigen Fassade, wie sie den Kontrollturm für den Flughafen in Batumi kennzeichnet. In dem Küstenort realisiert er mit Blick aufs Meer ein Hotelhochhaus, das heute zur SAS-Kette gehört.

Gestaltete Ode an Nofretete

Ein Spezialgebiet des Universalisten ist heute der Entwurf von Bauten und Umbauten für die Kultur in denkmalgeschützter Umgebung. In dem Mailänder „Palazzo del Arte“ der Triennale integrierte er eine demontable Bambusbrücke – als Hauptzugang für das Designmuseum. An der Piazza della Scala in Mailand entstand im Auftrag der Bank Intesa Sanpaolo das Museum „Gallerie D’Italia“ mit Gemäldesammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts, für das vier bedeutende Stadtpaläste miteinander verbunden wurden, auch durch De Lucchis neue, zeitgemäße Ausstellungsarchitektur. In Berlin schuf De Lucchi für das von David Chipperfield wieder aufgebaute „Neue Museum“ Interieur und Grafikdesign. Was kaum einer der Betrachter weiß: Die Nofretete wird heute in einer minimalistisch klaren, vier Meter hohen Vitrine präsentiert, die Michele De Lucchi gestaltet hat. Die „Manica Lunga“-Bibliothek auf der Isola San Giorgia in Venedig gehört ebenso zu seinen herausragenden Projekten wie die Sanierung von San Giorgio in Poggiale in Bologna, die heute eine Stiftungsbibliothek enthält.

Wanderer auf dem deutschen Jakobsweg können die kleine Jakobskapelle in Fischbachau aufsuchen. Sie steht auf privatem Grund, ist aus Stein gebaut und mit Fenstern aus experimentellen Holzstrukturen versehen, die De Lucchi gern selbst mit der Motorsäge anfertigt. Vergänglich und ewig, handwerklich, aber basierend auf Technik. Ein typischer Entwurf von Michele De Lucchi, der Gegenwart und Tradition reflektiert und verschmelzen lässt. Ein Ort der Andacht und des Ausblicks auf eine Welt, die mitunter aus den Fugen gerät.

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