Michael Schreckenberg
01.05.2001
Einer bremst und alle machen mit: So entstehen Staus. Wie eine Welle bewegen sie sich entgegen der Fahrtrichtung und sind scheinbar nicht aufzuhalten. Michael Schreckenberg ist Deutschlands wohl bekanntester Stauforscher. Auch er steht regelmäßig im Stau. „Und zwar auch häufig absichtlich, um mir das anzuschauen.“ An der Universität Duisburg-Essen (UDE) leitet er als Dekan den Lehrstuhl für die Physik von Transport und Verkehr. Er sieht das Problem hinter dem Lenkrad. Denn: „Autofahrer denken nur nach vorne, Ameisen denken dagegen kooperativ.“ Was können wir uns also von den kleinen Krabblern abschauen?
Franziska Queling: Der längste Stau aller Zeiten wurde gerade kurz vor der WM in Sao Paolo gemessen: 344 Kilometer. Herr Schreckenberg, Sie beschäftigen sich täglich mit dem wohl größten Problem aller Großstädte: Staus. Wie entsteht so ein Stau eigentlich?
Michael Schreckenberg: Einige Staus werden durch Unfälle, Baustellen und Wetterbedingungen verursacht. Die meisten Staus, etwa 60 Prozent oder mehr, entstehen aber durch Überlastung. Besonders an Anschlussstellen und Steigungen wird der Verkehr zunächst immer dichter und zähfließender. Wenn dann eine Einzelperson wegen Überreaktion, Ablenkung oder ähnlichem stehenbleibt und deshalb auch andere wegen dieser Person stehenbleiben müssen, entsteht eine Stauwelle. Die bewegt sich mit etwa 15 km/h gegen den Verkehr und kann über Rampen die Autobahn wechseln. Wenn Leute dann die Spur wechseln, verursachen sie noch mehr Stau, den sie selbst gar nicht mehr mitbekommen. Autofahrer denken nur nach vorne. Am besten wäre es, man würde den menschlichen Faktor aus dem Autofahren herausnehmen. Dann könnte man tatsächlich etwa zehn bis 20 Prozent der Überlastungsstaus verhindern. Das wird ja jetzt auch viel versucht mit Assistenzsystemen, Apps und so weiter.
Warum gibt es auf Ameisenstraßen denn keine Staus?
Schreckenberg: Der wesentliche Unterschied zu uns Menschen ist, dass Ameisen kooperativ sind und für das Kollektiv arbeiten. Bei uns Menschen sitzt das Problem also hinter dem Lenkrad. In der Anonymität des Fahrzeugs leben Autofahrer Dinge aus, die sie sonst nicht tun würden und verhalten sich oft egoistisch. Das kooperative Verhalten der Ameisen ist quasi ideal und hat außerdem keine Verzögerungszeit, sie reagieren direkt. Ein Mensch hat immer eine Verzögerungszeit von etwa ein bis zwei Sekunden vom Erkennen zum Reagieren, durch elektronische Assistenzsysteme lässt sich diese Verzögerung jedoch ausgleichen.
Was kann man sich von den Ameisen und ihrer Schwarmintelligenz abschauen?
Schreckenberg: Zwischen Automobilherstellern gibt es bereits eine Einigung auf ein gewisses Protokoll zur Kommunikation zwischen den Autos, vor allem zu Sicherheitszwecken, wie der Warnung vor Stauenden. Hier sendet das Auto am Stauende dem entgegenkommenden Verkehr Informationen zu, der nimmt diese mit und gibt den Fahrzeugen Bescheid, die auf das Stauende zukommen. Dieses Prinzip nutzen wir bereits für Forschungen am Lehrstuhl zur Verflüssigung des Verkehrs. Die nächste Stufe ist dann, dass die Autos synchron beschleunigen, die Spur wechseln und bremsen. Heutzutage gibt es leider noch nicht so viele Fahrzeuge, die mit der Technik für eine funktionierende Schwarmintelligenz ausgestattet sind, wie der WLAN-Kopplung. Sobald etwa 15 Prozent der Autos mit solchen Car-to-Car-Technologien ausgestattet sind, profitieren auch die anderen Fahrzeuge davon. 30 Prozent Ausstattungsgrad genügen sogar, dass alle Fahrzeuge im Verkehr in gleichem Ausmaß von der Schwarmintelligenz profitieren und das Maximum an effektivem Fahren erreicht ist.
In welchen Situationen profitieren die Menschen also konkret von der Car-to-Car-Kommunikation?
Schreckenberg: An erster Stelle auf Autobahnen. Denn beim Autobahnverkehr ist es so, das eigentlich nie ein Grund zum Bremsen besteht, außer wenn andere Sie dazu zwingen. Da macht es eben Sinn Lösungen auf Schwarmintelligenz aufzubauen, um den Verkehr zu verflüssigen.
Wie kann die Schwarmintelligenz dann im urbanen Raum helfen?
Schreckenberg: Der Innenstadtverkehr ist beherrscht von Kreuzungen, Ampeln und anderen Knotenpunkten. Innerhalb der Stadt helfen also Möglichkeiten der Car-to-X-Kommunikation. Das bedeutet, dass Autos mit Ampeln und der gesamten Infrastruktur kommunizieren. Außerdem werden in Städten schätzungsweise 40 Prozent der Staus durch Parkplatzsuche verursacht. Um das zu minimieren, gibt es vereinzelt bereits Systeme mit Sensoren im Boden oder Videos, die den Fahrern mitteilen, dass ein Parkplatz frei wird. Wenn der Suchverkehr wegfallen würde, könnte das den innerstädtischen Verkehr immens entlasten.
Wo sehen Sie dann die Chance des autonomen Fahrens?
Schreckenberg: Der Mensch fährt ja Auto, weil es ihm Spaß macht. Es wird nicht so sein, dass alles eines Tages durch autonomes Fahren ersetzt wird. Autofahren wird auch in Zukunft eine individuelle Sache sein, aber man kann sich in nervigen Situationen das Fahren abnehmen lassen kann.
Was denken Sie, wie Staus in Megacities wie Mexico City zukünftig gelöst werden können?
Schreckenberg: Schwarmintelligenz macht dort nicht viel Sinn, weil kaum ein Auto mit der Technologie ausgestattet ist. Um Staus so zu minimieren, müssten fünf bis zehn Prozent diese Technik besitzen. Und das wird so schnell nicht passieren.
Wie sieht es aus, wenn man die Daten mit Smartphones sammelt, die ja viele dort besitzen? Kann Schwarmintelligenz so funktionieren?
Schreckenberg: Da fast jeder heutzutage ein Smartphone besitzt, ist das die einfachste Form zu kommunizieren. Das Problem ist, dass sich die Menschen nicht daran halten. Reine Information reicht nicht aus, damit Schwarmintelligenz funktionieren kann. Es muss auch konkrete Handlungsempfehlungen geben und wenn diese nicht in die Technik des Autos eingebaut sind ist es fraglich, ob die Menschen sich als autarke Einheiten daran halten.