100 JAHRE BAUHAUS
Ein höchst lebendiges Monument
Fast ein wenig erhaben fühlt man sich beim Betreten des neugestalteten Thonet-Saales in der Münchener Neuen Sammlung. Wie aus dem obersten Rang eines Theaters blickt man über den halbrunden Raum, der in Stufen abfällt. Vor dem Umbau in schummriges Halblicht gehüllt, werden nun die Dimensionen dieses Amphitheaters durch die gleichmäßig helle Ausleuchtung erst richtig deutlich. Wo vorher die kleinteilige Ausstellungsarchitektur den Eindruck beherrschte, haben Designer Steffen Kehrle sowie die Kuratoren Xenia Riemann-Tyroller und Josef Straßer nun die Exponate in den Mittelpunkt gestellt. "Uns war es wichtig, die Schönheit der Objekte zu zeigen", erläutert Steffen Kehrle seinen gestalterischen Ansatz. Jeder der knapp 70 Thonet-Stühle, die für die Neupräsentation ausgewählt wurden, steht en-face dem Betrachter gegenüber, hinterfangen von einer Balustrade aus Aluminium. "Wir wollten, dass jedes Objekt seinen eigenen Raum hat", sagt Xenia Riemann-Tyroller. Und den haben die Ausstellungsstücke. Nichts wirkt beengt, nichts wirkt drückend. Jeder Stuhl tritt dem Betrachter als eigenständiger und für sich stehender Designentwurf entgegen. Die Einbettung in die Industrie- und Technikgeschichte, früher das zentrale Anliegen der Sammlungspräsentation, erscheint hier nur ganz subtil. "Wir haben das Konzept der seriellen Fertigung, das für den Erfolg von Thonet maßgeblich war, in die gleichmäßige, fast rhythmische Aufstellung der Stühle übersetzt", erklärt Riemann-Tyroller.
Mit minimalem Arbeitsaufwand und maximaler Materialausnutzung Möbel zu produzieren – diesen Gedanken machte Michael Thonet, Tischler aus Boppard am Rhein, zu seiner Lebensaufgabe. 1819, also vor genau 200 Jahren, gründete er seinen eigenen Betrieb. Ab etwa 1830 begann er mit dem Biegen von Holz zu experimentieren. Der sogenannte "Bopparder Sessel", wohl gegen Ende der 1830er-Jahre entstanden und einer der ältesten erhaltenen Thonet-Stühle überhaupt, illustriert zum Auftakt der Ausstellung diese ersten Schritte. Doch es fehlte die Kundschaft für die neuartig hergestellten Produkte – obwohl die Technologie zunächst noch verschämt unter Furnier verborgen wurde. Die Rettung kam in Gestalt des österreichischen Staatskanzlers von Metternich, der – Genaues ist strittig – auf Michael Thonet aufmerksam wurde und ihn überzeugte, nach Wien zu übersiedeln. Von Wien trat Thonet dann seinen Siegeszug an, ermöglicht durch einen technologischen Durchbruch: Statt Schichtholz mithilfe von Leim, bog das Unternehmen nun massive Rundhölzer mithilfe von Dampf und Druck in Form. Das gestattete nicht nur die serielle Produktion in großem Umfang, es erlaubte auch die Einzelteile des Stuhles unabhängig voneinander zu produzieren. So konnte der Stuhl platzsparend verschifft und erst am Bestimmungsort zusammengebaut werden – ein enormer Kostenvorteil, denn in eine Transportkiste passten so 36 Exemplare des berühmten "Kaffeehausstuhles" Typ 14, dem heutigen Modell 214. Allein von ihm verkaufte Thonet bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges rund 50 Millionen Stück in alle Welt. Das Unternehmen war aber auch in anderen Feldern Wegbereiter für den modernen industriellen Möbelbau. Man produzierte nicht mehr auf Bestellung, sondern hielt die Ware auf Lager. Kataloge wurden zum zentralen Vertriebsinstrument. Die Angebotsvielfalt war gewaltig. Bis zum Jahr 1914 produzierte das Unternehmen rund 1400 verschiedene Modelle.
Mehr als 400 davon befinden sich im Bestand der Neuen Sammlung, weltweit eine der größten Kollektionen von Thonet-Möbeln. Die für die Dauerausstellung ausgewählten Stühle aus allen Epochen sind eindrucksvoller Beleg für die ungebrochene Innovationskraft des Unternehmens, dessen 200-jährige Geschichte auch ein Abbild der politischen Umwälzungen in Europa ist. Eine Geschichte, die von Boppard nach Wien und weiter nach Böhmen und Mähren führt, wo die Fabriken zur Möbelproduktion errichtet wurden. Eine Geschichte, zu der auch der Verlust fast aller Produktionsstätten im Zweiten Weltkrieg und die Rückübersiedlung nach Deutschland, ins nordhessische Frankenberg, gehört.
Die Ausstellung spiegelt aber auch fast 200 Jahre Designgeschichte, beginnend im späten Biedermeier. Fast alle stilistischen Tendenzen des 20. und 21. Jahrhunderts sind an den Exponaten ablesbar. Da sind natürlich die Klassiker aus Bugholz und, ab etwa 1930, aus Stahlrohr, ein Material das Mart Stam und Marcel Breuer am Bauhaus für den Möbelbau entdeckt hatten. Es sind aber auch kaum bekannte Entwürfe zu sehen. Etwa ein Armlehnstuhl aus Schichtholz, den 1951/1952 Walter Gropius, zu diesem Zeitpunkt längst Professor in Harvard, gemeinsam mit Benjamin S. Thompson für das unabhängige Tochterunternehmen Thonet Industries USA entwarf. Der Stuhl wurde nie in Europa vertrieben. Auch bei Thonet in Frankenberg war er in Vergessenheit geraten. Kurator Josef Straßer gelang es rechtzeitig zur Ausstellung, ein Exemplar bei einem Händler in Indiana zu ergattern. Bei einigen Stücken aus den 70er- und 80er-Jahren konnten die Bestandslücken einfacher geschlossen werden – Kuratorin Xenia Riemann-Tyroller fand sie bei befreundeten "Thonetologen".
Thonet & Design
Die Neue Sammlung - The Design Museum
Türkenstraße 15
80333 München
seit dem 17. Mai 2019
Öffnungszeiten:
10 bis 18 Uhr (Di., Mi., Fr.-So.)
10 bis 20 Uhr (Do.)
Montags geschlossen