Meister des Zusatznutzens
„Hot to Cold“ heißt die aktuelle Werkschau des dänischen Architekturbüros Bjarke Ingels Group (BIG), die derzeit im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main zu sehen ist. Der Titel beschreibt das Konzept der Ausstellung. Denn sie zeigt die Arbeiten von BIG nicht in chronologischer Rheinfolge, sondern sortiert nach den Klimazonen, in denen die Gebäude entstehen oder entstanden. Der Anspruch, den das Büro damit formuliert, ist enorm: Jedes Bauwerk, das die Architekten um Bjarke Ingels bauen, soll ganz spezifisch für seinen Bauplatz, seine Umgebung, sein Klima unter Einbeziehung aller an es gestellten Anforderungen von Grund auf neu erdacht werden. Dabei soll es aber nach Möglichkeit auch noch Bedürfnisse oder Funktionen erfüllen, die der Bauherr noch gar nicht in Erwägung gezogen hat. Soziale und ökologische Belange sollen gleichermaßen Berücksichtigung finden. „Wir investieren einfach einige Wochen mehr Zeit in Recherche für unsere Entwürfe, als das durchschnittliche Architekturbüro“, sagt Kai-Uwe Bergmann, einer der Partner bei BIG, als wäre es dann ein Kinderspiel, verblüffende Resultate zu erzielen.
Die Ausstellung beginnt, wie im Titel angekündigt, bei „hot“ – der Entwurf für das Sendezentrum eines arabischen Nachrichtensenders am Persischen Golf – und endet bei „cold“ mit einem Ski Resort im finnischen Levi, 170 Kilometer nördlich des Polarkreises. Bei all den Projekten dazwischen beeindruckt die Vielfalt der gefundenen Lösungen. Die Ausstellung und das im Taschen Verlag erscheinende Buch gleichen Namens illustrieren mit zahlreichen Grafiken und Schaubildern die Vorgehensweisen und technische Zusammenhänge bei den einzelnen Entwürfen. Dies ist schon allein wegen des Bilderbuchcharakters verführerisch. So wird etwa der Entwurfsprozess des oben angesprochenen Sendezentrums comicartig illustriert: Die Bauaufgabe verlangte zwei Hochhäuser. Die Architekten treppen aber beide Bauten zu je einer Seite unregelmäßig ab, so das zwischen den zwei Gebäuden eine Art Tal aus Würfelformen entsteht, die als Weiterentwicklung typisch arabische Stadttypologien begriffen werden sollen, in denen hier aber die Sendestudios untergebracht werden. Nun spannt man noch ein riesiges Sonnensegel über dieses Tal: et voilà! Am Ende kann man kaum anders, als dies für die ideale Lösung der Aufgabe zu halten.
Nun ist weder das Eingehen auf ortsspezifische Bedingungen noch das Erklären von Entwürfen mit Hilfe von hübschen Grafiken besonders neu in der Architektur. Neu ist vielleicht der verspielt-didaktische Ansatz, in dem das alles vorgetragen wird. Bei der Vorgängerausstellung samt dazugehöriger Publikation, „Yes is More“ betitelt, trat uns Ober-BIGster Bjarke Ingels als Protagonist einer Fotostory entgegen, in der er dem geneigten Besucher, respektive Leser, mit viel Verve seine Vision zu vermitteln suchte: Denke positiv, baue schlau und alles wird gut. „Hot to Cold“ kommt eher im Gewand populärwissenschaftlicher Jugendliteratur á la „Was ist Was“ daher. So werden etwa zu jedem Bauplatz Klimazone und Durchschnittstemperatur gleich mitgeliefert.
BIG-Architektur trägt all die Elemente, die diese Ausstellungen und Publikationen ausmachen, ebenfalls in sich: den spielerischen Ansatz, die populärwissenschaftliche Botschaft, das Bemühen um neue Vorgehensweisen und nicht zuletzt den Personenkult um Bjarke Ingels. Dabei ist das Suchen nach Zusatznutzen für die eigenen Entwürfe einer der hervorstechendsten Züge von BIG. Das ist beizeiten verblüffend und wegweisend, manchmal aber auch etwas schlaumeierisch. Da werden Museen zu Brücken („Museum über einem Fluss“) und Hochhäuser haben Höfe (VIA 57 WEST, New York) oder werden nach oben größer (Vancouver House). Beim 180 Meter hohe Omniturm, dessen Baubeginn im Frankfurter Bankenviertel in diesem Jahr erfolgt ist, verspringen auf etwa halber Höhe die Etagen plötzlich vor und zurück – bei BIG nennt man das einen „shake“. Dieser ermöglicht, dass die Wohnungen, die sich an dieser Stelle in dem Mehrzweckturm befinden, Balkone erhalten. Überhaupt ist BIG im Hochhausbau schwer im Geschäft, gezeigt werden aber auch Schulen und Theater, Hotels und Museen, Wohnkomplexe und – neuste Erweiterung des BIG-Portfolios – Sportstadien. Sogar an technische Infrastrukturen wagt sich BIG mittlerweile. Das mit Abstand umfangreichste ist der neue Hochwasser- und Sturmflutschutz, der rund um Manhattan entstehen und zukünftig Zerstörungen wie durch den Hurrikan Sandy im Jahr 2012 verhindern soll. BIG haben den Wettbewerb gewonnen, weil sie ihr Dammsystem mit einer Vielzahl von Zusatznutzen verbunden haben. So wird der Flutschutz in einen Park eingebettet, der die gesamte Wasserlinie Manhattans säumen soll. In diesem sollen Sport- und Spielplätze, Promenaden, Badeplätze, Läden, sogar eine Schule und ein Museum entstehen.
Weil nach dem Verständnis von BIG alle Form immer nur aus der Bauaufgabe und dem jeweiligen Ort entsteht, kann es auch keine wiedererkennbare Architektursprache geben. Tatsächlich ist das Erscheinungsbild der Bauten vielfältig. Eine Vorliebe für Torsionen aller Art ist allerdings unübersehbar. Auch gibt es einige Beispiele für sprechende Architektur, architettura parlante, wie etwa bei dem Werksmuseum für den Schweizer Uhrenhersteller Audemars Piguet, dessen Spiralform auf die Unruhe mechanischer Uhrwerke anspielt.
Man wird Kai-Uwe Bergmann wohl Recht geben, wenn er sagt, dass die Planung gut konzipierter, nachhaltiger und auch aufregender Gebäude immer eine gute Investition ist. Ob das immer nur mit ein paar Wochen mehr Nachdenken und Recherchieren zu erreichen ist? Es wird spannend sein zu beobachten, ob das Büro aus Kopenhagen dauerhaft in der Lage ist, den enormen Anspruch an sich selbst einzulösen und bei jedem weiteren Projekt ein neues Kaninchen aus dem Hut zu zaubern. Ausgehend vom bisher an den Tag gelegten Präsentations- und Publikationseifer ist anzunehmen, dass uns BIG darüber auf dem Laufenden halten werden.