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Auf in die Karawanserai
von Joerg Bader | 28.06.2011

Angelehnt an eine jahrhundertealte Route, bringt Mike Nelson im britischen Pavillon ein Stück Istanbul nach Venedig. Die Lagunenstadt ist nicht erst seit dem Verkehr großer Kreuzfahrtschiffe wie der „Magnifica" – die jedes Mal haushoch die Sicht auf San Marco verdeckt, wenn sie in Venedig ausläuft – mit dem früheren Konstantinopel verbunden. Die Seefahrerrepublik steht mit der Hauptstadt des einstigen Osmanischen Reichs etwa seit dem 7. Jahrhundert in regem wirtschaftlichem wie kulturellem Austausch und unterhielt dort einst auch eine Kaufmannskolonie. Was die westöstlichen Verkehrsverbindungen angeht, so stellt der Orientexpress zwar nur eine Episode dar, wahrscheinlich jedoch die berühmteste, die die Briten zu dieser wechselhaften Geschichte beigetragen haben.

Der Brite Nelson bringt in diesem Jahr denn auch seine vor acht Jahren bei der Biennale in Istanbul verwirklichte Installation „Magazin: Büyük Valide Han" gleichsam in die Giardini Venedigs und in den Britischen Pavillon zurück, ist doch die Biennale von Venedig, 1895 gegründet, die Mutter aller Biennalen. 2003 in Istanbul war es kein Leichtes, Nelsons Beitrag im alten Handwerksviertel Büyük Valide Han rund um den Großen Bazar zu finden. Ja, in dieser Megapole mit über fünfzehn Millionen Einwohnern glich das Ganze der Suche nach einer Nadel in einem Heuhaufen. Mehrmals verirrte man sich im Labyrinth schmaler Gassen. Hatte man dann aber die enge Steintreppe erklommen und die lichtdurchlässige Holztür aufgestoßen, stand man in finsterem Rotlicht, mitten in einem verlassenen Schwarz-Weiß-Labor. Von der Decke hing eine Unmenge von Abzügen im Format 24 mal 36 Zentimeter. Sie alle zeigten Motive aus der Gegend, die man soeben durchstreift hatte. Und weil Büyük Valide Han selbst so alt und halbverfallen ist, war es schwierig, die Fotografien zu datieren. Es entstand der Eindruck, man würde einem türkischen Heinrich Zille oder Eugène Atget über die Schulter schauen und dabei zu sehen, wie er mit viel Sorgfalt und Liebe versucht, den vom Verschwinden bedrohten alten Mauern durch den Akt des Fotografierens vor dem Vergessen zu retten. Dieses Labor, mit demselben Kleinbild-Vergrößerungsapparat und denselben Plastikbecken für Entwickler- und Fixierbäder, erlebt nun seine Wiederauferstehung in Venedig.

Befindet sich der Betrachter erst einmal im Britischen Pavillon, so läuft er Gefahr, sich zu verlieren, ganz ähnlich wie vor acht Jahren in Istanbul. Wiederum müssen Treppen erklommen, Lichthöfe durchquert und Zwischenböden passiert werden, um zur „Fotomiene" vorzudringen – nun jedoch auf geballtem Raum. Alles riecht und fühlt sich an wie Istanbul; zwar weniger wie die alten Mauern der Karawanserai Büyük Valide Han, aber dafür mehr wie der darum herum gebaute Stadtteil mit Häusern aus dem 20. Jahrhundert. Hat Mike Nelson deshalb den Titel „I, Impostor" – „Ich, der Schwindler" gewählt?

Alles ist ein bisschen vermodert, verrostet, verstaubt und vom Zahn der Zeit angenagt. Leitern führen zu unerreichbaren Doppelböden, improvisierte Werkbänke stehen gelangweilt herum, in eine Ecke gestellte Schemel schämen sich ihrer Farbkleckse, eine umgekippte Bierkiste mit einem darübergelegten Brett will mal als Abstellfläche gedient haben. Verschlossene Türen und leere Fernseher, verstaubte Notizblöcke und jahrelang unbenutztes Werkzeug dümpeln vor sich hin. In einem anderen Raum zeugen am Boden liegende Decken und Kissen von menschlicher Präsenz. Eine lieblos aufgerichtete Backsteinmauer führt in eine Kloake. Man riecht zwar nichts, aber schon beim Hinsehen steigt einem der Geruch von Urin in die Nase. Gleich daneben verweist ein Kronleuchter auf höheres Standing. Ein schildähnlicher Deckel mit arabischen Kaligrafien und die Fahne eines türkischen Fußballklubs (die eine fehlende Fensterscheibe ersetzt), weisen klar auf den Standort Istanbul hin. Alles ist schmutzig, verstaubt, abgestanden, halb verbraucht und dermaßen ungeordnet, dass niemand auf den Gedanken kommt, jemand könnte alles mit Akribie und Ordnungssinn arrangiert haben. Wo sind wir nur?

Nelsons Environments sind häufig Reisen in die Vergangenheit. Darin ähneln sie Installationen wie Edward Kienholz' „Roxy" von 1969, der Rekonstruktion eines Bordells aus den vierziger Jahren, die zur Zeit in der Pinault-Sammlung in der Dogana gezeigt wird. Freilich mit dem Unterschied, dass Nelsons Räume ohne Menschen oder menschenähnliche Wesen auskommen, aber mit großem Gespür fürs Narrative angelegt sind. Kurz: Nelson, ein großer Literaturkenner, baut Raumwerke mit einem unwiderstehlichen narrativen Sog.

Man kann sich gut vorstellen, dass an einem regnerischen Herbstmorgen im kommenden Oktober, wenn der Strom der Kunst-Touristen langsam zu versiegen beginnt, einige Besucher in den prall mit Geschichte gefüllten Räumen mulmig zu Mute sein wird. Genau hier liegt die Stärke der Arbeiten Mike Nelsons. Sie stecken voll präziser Details, nirgendwo zweifelt man an der Wahrhaftigkeit des Ortes und der Dinge. Jede Spur bestätigt den Verdacht und verweist auf das gelebte Leben das hier stattgefunden haben muss. Mit seiner manischen Detailversessenheit gleicht Nelson einem Fotografen, der sich für eine Großformat-Kamera mit einem riesigen Negativ entscheidet, um gestochen scharfe Abzüge im Maßstab Eins-zu-eins vergrößern und uns noch die feinste Augenbraue detailgenau zeigen zu können. Mit dem Unterschied, dass sich in Nelsons Environment alles berühren lässt. Im Gegensatz etwa zu Hans Op de Beeck, der seine dreidimensionalen Settings nur von einem bestimmten Blickpunkt aus dem Publikum anbietet, sitzt man bei Nelson nicht im Zuschauerraum, sondern befindet sich mitten im Geschehen.

Der Betrachter, der sich durch die Räume bewegt, ist entwurzelt und in ein Umfeld versetzt, das er weder wählen konnte, noch sich erträumen darf. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als jedes Element aufzunehmen und sich aus der langen Kette von Orientierungspunkten selbst einen Reim zu machen. Denn bei aller Präzision tappt der „Raumwandler" im Halbdunkel. Die Geschichte, die er hinter allem, was er sieht, ahnt, gibt sich ihm nicht preis. Die Summe aller Indizien machen Zusammenhänge nicht klarer. Schließlich bleiben wir mit unseren Vermutungen und Ahnungen allein, jeder wird der Autor einer anderen, ungeschriebenen Geschichte.

Gregor Schneider, der das Publikum 2001 mit einem Haus-Labyrinth im Deutschen Pavillon verwirrte und begeisterte, oder auch Christoph Büchel, der 1999 sein Publikum durch Schächte kriechen ließ, die ein penetrant schweizerisches (Un)Wohlbehagen ausströmten, unterscheiden sich erheblich von Mike Nelson. Nelson schickt nicht nur der Betrachter auf eine geistige Reise, er „verschiebt" seine Werke und lässt sie an jedem Ort neu Gestalt annehmen. 2001, im selben Jahr, als Gregor Schneider in Venedig zur großen Entdeckung wurde, schickte Nelson sein Publikum in einer alten Bierbrauerei auf einen verschlungenen Weg durch eine „Bürolandschaft" der fünfziger Jahre. Als er im selben Jahr für den Turner-Preis nominiert wurde, zeigte er in der Tate Modern in London „The Deliverance and the Patience" abermals, nun aber in komprimierter Form. Alles befand sich gebündelt und zum Aufbau bereit im Ausstellungsraum – der so zum Lagerraum wurde. 2005 verschob der Künstler ein 1998 im Camden Art Center in London entwickeltes Studioprojekt ins Musée d'art moderne et contemporain, kurz Mamco, nach Genf. Es trägt den langen Titel: „Studio Apparatus for Mamco – An intermediate Structure for a Museum: Introduction; Building Transplant in three Sections; Towards a Revisiting of Futurobjects (As Voodoo Shrine); Mysterious Island* See Introduction or Humpty Dumpty." Mit dem Abfallholz der vorhergehenden Ausstellung konzipierte er eine etwa 35 Meter lange Struktur mit Gängen und engen Räumen, warf eine Betondecke darüber und zeigte sein mögliches Atelier, das in etwa den ehemaligen Fabrikräumen glich, in denen das Museum untergebracht ist, nicht nur als Abfallhaufen und Produktionsstätte, sondern auch als Hort der Ideen und der Materialien – und schließlich als Ort der Rezeption.

Physische und psychische Räume zu verschachteln, sie als Produzenten von Assoziationen und Stimmungen und als Auslöser verschütteter Traumbilder und abgründiger Ängste einzusetzen, ist eine der großen Qualitäten des Künstlers. Und wenn er seine Räume nicht an andere Orte verpflanzt, dann schickt er – wie 2003 im Fall von „The Pumkin Palace" – den Raum auf vier Rädern selbst auf Reisen, in einem ehemaligen GMC Bus, der wie ein Vehikel des Roten Halbmonds aussah und Orte evozierte wie Opiumhöhlen für Kriegsveteranen oder Koranschulen für Afghanistankrieger.

Catherine Pavlovic, Kuratorin der Nelson-Ausstellung im Genfer Mamco, erinnert sich an einen manisch arbeitenden Künstler, dessen Tatendrang nicht Einhalt zu gebieten war, mit dem aber nach getaner Arbeit ein Bier trinken zu gehen, zum Schönsten gehört: „Manchmal sagt er von seinen Konstruktionen, dass sie ein Versuch seien, seinen eigenen Stil auszuschöpfen, im Sinne von Jorge Luis Borges, der im Vorwort zu seiner 'Universalgeschichte der Niedertracht' den Barockstil als einen Stil beschreibt, der alle seine Möglichkeiten absichtlich erschöpft und sich so an die Grenze zu seiner eigener Parodie bringt."

http://venicebiennale.britishcouncil.org


In unserer Reihe zur 54. Kunstbiennale von Venedig sind bisher erschienen:
> „Jenseits von Angst und Afrika" von Thomas Wagner
> „Taubenverteilen im Park" von Thomas Wagner
> „Wir verlassen den amerikanischen Sektor..." von Joerg Bader und Thomas Wagner
> „Mitgefangen, mitgehangen" von Annette Tietenberg
> „Amerikanische Turnstunde" von Thomas Wagner
> „Widerstand - erstarrt oder verflüssigt?" von Barbara Basting
> „ Schlinge, Schlinge über alles" von Barbara Basting
> „Tintoretto - einer von uns?" von Annette Tietenberg
> „Das übermalte Feuilleton" von Joerg Bader
> „Venezia, Piazza Tahrir" von Barbara Basting

Mike Nelson und der Britische Pavillon
Britischer Pavillon mit der Installation „I, Impostor“ von Mike Nelson zur Biennale in Venedig 2011, Fotos: Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Britischer Pavillon mit einer Installation von Mike Nelson
o; Matt’s Gallery, London; and 303 Gallery, New York.