Im Küchenjahr 2012 scheinen auf der Eurocucina neue Spielregeln zu gelten. Bislang war die Messe selbst, die im jährlichen Wechsel mit der „Living kitchen" der imm cologne stattfindet, ein idealer Schauplatz für alles, was elegant, visionär und maximalistisch daherkommt, kurz: Der weltweite Pilgerort für Küchengestaltung. Als Beiwerk dienten die über die Stadt verteilten Showrooms, in denen sich die auf der Messe gewonnenen Erkenntnisse vertiefen ließen. Doch das Bild beginnt, sich zu verändern. Erstmals ging in diesem Jahr die Zahl der Eurocucina-Aussteller zurück, von 151 bei der letzten Veranstaltung 2010 auf nur noch 132. Neben wirtschaftlichen Schwierigkeiten mancher Hersteller dürfte nicht zuletzt die Verlagerung wirtschaftlicher Gewichte in Europa dabei eine Rolle spielen, die sich auch auf die Handelsplätze auswirkt. Inzwischen sehen Besucher, Hersteller und Händler die „Living kitchen" Anfang 2013 in Köln als zentralen Treffpunkt, auf den sie sich konzentrieren. So hat sich auch das Designfieber bei den Küchenherstellern in diesem Jahr ein wenig abgeschwächt. Nicht nur bei Marken aus Deutschland herrschte Zurückhaltung, mitunter gar Bescheidenheit. Die Revolution der Küchengestaltung stand auch in diesem Jahr nicht auf der Agenda. Neue Grundlagen und Analysen über Kochgewohnheiten, neues Datenmaterial oder andere Erkenntnisse wurden in Mailand nicht ventiliert. Überarbeitung, Verbesserung, Aktualisierung: Das waren die Stichworte, die überall zu hören waren.
Rücksturz in den eigenen Showroom
Während die Messe verliert, profitieren die Monobrand-Stores. Die nach eigenen Regeln betriebene Heimatbasis wird zum Ort der Kommunikation – zumindest in Mailand. Deutsche (Alno, Poggenpohl, Warendorf) und italienische Marken (Arclinea, Dada, Schiffini) zogen sich vom Messegeschehen zurück, von den bekannten deutschen Marken blieben Leicht und Siematic. Während Poggenpohl ein neues 350 Quadratmeter großes „Design Center" gegenüber von Mailands künftigem Modezentrum in der Via Galileo Galilei 12 einweihte, zelebrierte Warendorf im neuen Showroom die jüngste Piet Boon-Küche „Stockholm", Alno blieb dem Mailänder Geschehen gänzlich fern. Auch Arclinea (mit neuer Outdoor-Küche), Dada und Schiffini konzentrierten sich auf ihre Showrooms, Varenna, die Küchenmarke von Poliform bespielte Messe und Showroom.
Dada, die Küchenlinie des Möbelherstellers Molteni, bezog in dessen Nähe an der Via Larga Ecke Piazza Santo Stefano erstmals einen eigenen Flagship-Store (gestaltet von Ferruccio Laviani). Hier gibt es unter anderem Lavanis neue Küche „Hi-Line 6" zu sehen, die erste mit Fronten aus Alucobond. Aber auch Überarbeitungen der Küchen „Trim" und „Set" sowie Produkte aus der Zusammenarbeit mit Armani werden gezeigt. Einer Neuheit hat sich Schiffini verschrieben, dem Modell „Pampa" von Alfredo Häberli und Theo Gschwind, die Ausstellung gestaltete Häberli mit Alfonso Arosio. Der Griff als Verschmutzung, als Beeinträchtigung monolithischer Konzepte, als notwendiges Übel treibt die Küchengestalter nach wie vor um. Häberli fühlte sich beim Entwurf von „Pampa" von seinem argentinischen Landsmann Lucio Fontana inspiriert. Ein sorgsam geformter Schlitz in den Türen lässt ein Wechselspiel von Licht und Schatten auf den Oberflächen der Küchenelemente entstehen. Freilich dürfte die Einpassung der schwarzen Griffelemente ins Furnier bis zum Serienstart noch perfektioniert werden. Neben der Neuheit selbst war auch die Ausstellung mit scheinbar zufällig arrangierten Lieblingsobjekten des Designers sehenswert.
Divergente Wege
Gleich mehrere Neuheiten, die verschiedene Wege beschreiten und sich so intelligent ergänzen, präsentierte Valcucine. „Meccanica" der Submarke Demode ist ein Baukasten für alle, die es gern einfach, bunt und spielerisch haben. Wie ein Mechanikspiel aus Jugendtagen besteht es aus vielen (vielleicht zu vielen?) Einzelteilen, mit dem offene, allseits zugängliche Küchen konstruiert werden können. Das Ganze wirkt erschwinglich, was es von zahlreichen anderen Premiumherstellern unterscheidet, doch dürften die zahlreichen Kleinteile des Systems letztlich preistreibend wirken. „Sine Tempore" markiert einen weiteren Weg: Gegenwart trifft Tradition, handwerklich und detailreich faszinierte Fronten empfehlen sich als Alternative zu biederen Retroformen. Puristen begeistern sich eher für das „New Logica System", bei dem Utensilien zum Kochen hinter von Hand bewegten Metall-Schiebeelementen verschwinden. Denn in der gut gestalteten Küche der Gegenwart zählen nicht nur funktionale Aspekte, die das gemeinsame Vorbereiten, Kochen und Verspeisen unterstützen. Mindestens ebenso wichtig ist, dass sich der gestaltete Küchenkörper vor und nach der Benutzung zum makellosen Monolithen, zum unberührbaren Schrein verwandelt. Ein Konzept des niederländischen Architekten Wiel Arets treibt diese Schrein-Idee auf die Spitze. Seine Küche (in Kooperation von Alessi und Valcucine entstanden) ist für den Contract-Bereich konzipiert und wartet mit riesigen makellosen Corian-Oberflächen auf.
Material- und andere Proben
Die Küche als gigantische Materialprobe, das ist eine Aufgabe, der sich bereits Zaha Hadid vor Jahren stellte, als sie ein visionäres Kochlabor aus Corian gestaltete, das in Mailand für Aufsehen sorgte. Gleiche Aufgabe, anderes Material: „Shaping Silestone" mit weißen Quarzoberflächen der spanischen Firma Consentino ist zugleich dreiflügelige Propeller-Installation zum Kochen, entworfen von den Gebrüdern Humberto und Fernando Campana, die es im Superstudio Più zu bestaunen gab. Eingebaut waren auch Fächer zur Präsentation weiterer Farboberflächen, was das Projekt – ganz dem Zeitgeist entsprechend – in Richtung Marketing wegdriften ließ. Eine „Küche zum Kochen" war dies gewiss nicht. Eher schon zum Staunen und schnellen Vergessen.
Neue Farben, mehr Farben
Materiallieferant DuPont präsentierte seinen oft in Küchen genutzten Werkstoff Corian erstmals auch in Farbe. Den Küchenherstellern stand das neue Material noch nicht zur Verfügung, so waren neue Farb- und Materialvariationen vor allem an den Fronten der Möbel zu sehen. Poggenpohl präsentierte in seinem neuen Design Center (in der Via Galileio Galilei 12) erstmals einen Touch-Screen-Konfigurator für Küchen. Vor dem Hintergrund neuer Farben und Oberflächen – das Unternehmen bietet inzwischen die größte Auswahl in seiner 120-jährigen Firmengeschichte – bedarf es neuer Darstellungs- und Auswahltechniken. Im vergangenen Jahr wechselte bei Poggenpohl die Geschäftsführung. Der neue Firmenchef Lars Völkel möchte das Portfolio von unten her neu aufsetzen. Chefdesigner Manfred Junker erläutert: „Dabei geht es nicht etwa um eine Billig-Linie, sondern darum, auch den unteren Preisbereich ernst zu nehmen und zu erneuern. Er erhält zeitgemäße Farben, edle, preiswerte Materialien, bevor wir auch den oberen Preisbereich neu gestalten." Junker hat aktuelle Veränderungen im Blick: „Die Ära der ganz dunklen Töne hat ihren Höhepunkt erreicht", sagt er und ergänzt: „Wir sprechen wieder von helleren und leichteren Hölzern. Künftig wird man wieder mehr die Struktur der Hölzer erkennen. Dazu kombinierbar sind Beige, Braun und Grau. Wir werden mit Farben spielen, wenn auch nicht ganz so stark wie manche unserer Mitbewerber."
Gänzlich anders „Critter", entworfen und realisiert von dem Mailänder Designer Elia Mangia. Bereits 2008 gestaltete er für ein Loft in Paris eine kompakte, offene Kochstelle. Mit „Critter", die in der Ausstellung „Qualities Uncovered" gezeigt wurde, ging Elia noch einen Schritt weiter. Seine transportable, zerlegbare Küche, die draußen wie drinnen genutzt werden kann, stellt die bewährt unbewegliche Architektur der Essenszubereitung noch einmal grundsätzlich in Frage. An zwei Querträgern aus massivem Eschenholz kann seine 2,40 lange Kochstelle mit Arbeitsplatz und Spüle modular bestückt werden, zusammen gehalten von nur acht Schrauben. Wie eine Sänfte lässt sie sich zu zweit umhertragen. Im Grunde ist sie eine ebenso radikale wie plausible Frage an heutige Gewohnheiten und an die etablierte Küchenindustrie. Brauchen wir tatsächlich so viel Möbel, so viel Schrank, so viel Herd, so viel Kochfeld, so viel Spüle, nur um uns und unseren Freunden ein gelungenes, wohlschmeckendes Essen zu bereiten?
Die Beständigen
Vor anderen Fragen stehen die Marken, die in sich ruhen, die bei allem Drang zur Innovation ihre Kraft und Ausstrahlung aus sorgsam gewählten, womöglich kleinen Schritten beziehen. Zu ihnen gehören seit jeher Boffi, Minotticucine und Bulthaup. Undenkbar, sie sich im Getümmel der Messe vorzustellen. Man sucht sie an ihren spezifischen Orten auf, an charakteristischen Plätzen in der Stadt. Boffi etwa stellt in seinem weitläufigen Showroom in der Via Solferino neue Systeme, neue Bäder und mehrere neue Küchen vor, neben der neuen „K20" von Norbert Wangen, gehören dazu die neue Materialien und Typologien für die „Aprile"-Küche von Piero Lissoni. Sie hat Fronten aus massivem Canaletto-Nußbaum, die thermogetrocknet und geölt wurden. Ihre Bohlen-Ästhetik in einer Mischung aus Präzision und Rauheit an den nur provisorisch geordneten Stadtraum der Außenwelt und kündet zugleich von höchster Präzision. Ihre vier Millimeter dünne Arbeitsplatte aus Edelstahl hat ein durchdachtes Innenleben aus Holzpanelen, das sie leicht und zugleich beständig macht. Das Modell „Xila 09", seit vierzig Jahren hergestellt, gibt es mit veränderten Oberflächen, etwa mit einer Arbeitsplatte und mit Türen aus satiniertem, rückseitig lackierten Glas.
Schreine zum Kochen, Altäre, antiken Opferstätten gleich, transferiert Minotticucine in die Gegenwart. Da ist etwa „Era", gestaltet von Salvatore Indriolo, die Küche aus massivem, von Hand gebürstetem Aluminiumblech. Die Arbeitsfläche und die Wangen zwischen den Aluminiumelementen bestehen aus irischem Basalt. Oder das Modell „Aura", gestaltet von Working Project, es erscheint von außen als massiver Kupferblock. Doch der lässt sich in der Mitte öffnen, fährt geräuschlos zu beiden Seiten und gibt zwei große Teppan Yaki-Kochfelder aus handgebürstetem Edelstahl frei. Radikal, archaisch, massiv.
Spiel mit Prismen
Im vergangenen Jahr zeigte Bulthaup eine Inszenierung von Mike Meiré. „Shifting Contexts" stellte Gewissheiten in Frage, veränderte den Blick auf die deutsche Ingenieursmarke. So unterhaltsam und verstörend diese Präsentation wirkte: sie hat geholfen, einen neuen Weg zu eröffnen. Für das Neue steht mit Designer Herbert Schultes ein alter Bekannter. Er hat die Marken- und Produktwelt von Bulthaup mit den Systemen „25" und „20" und vor allem mit der schwebenden Küche „b3" maßgeblich geprägt. Sein bislang letztes Werk für den Küchenhersteller aus Aich war der minimalistische „b3" Monoblock, eine Insel aus Edelstahl, nahtlos geschweißt. „Weiter konnte man den Minimalismus nicht mehr treiben, da war Ende", sagt Schultes in der Rückschau. Das Pendel schlage nun in die Gegenrichtung: Statt Funktionen zu verstecken, müssten sie wieder sichtbar werden.
Schultes Verständnis der Gestalterei zwingt ihn, etwas Neues nur dann zu beginnen, wenn er sich vom Ergebnis eine Verbesserung verspricht. Um zu Neuem vorzudringen, spielen bei seinen Entwürfen stets ergonomische Überlegungen eine maßgebliche Rolle. Als ihn Bulthaup-Chef Marc O. Eckert bat, nach langer Unterbrechung wieder neue Ideen für die Marke zu entwickeln, begann Schultes mit einer zunächst unspektakulär erscheinenden Kleinigkeit: Er konzipierte eine veränderte Innenausstattung des Schub- und Auszugssystem für die Küche „b3". Üblicherweise werden Schubladen durch Kästen, Stege und Schachteln strukturiert, mal bestehen sie aus Glas, aus Blech oder Holz, ein anderes Mal sind sie mit Leder bezogen. Vom Denken in Kästchen verabschiedete sich Schultes im Zusammenspiel mit den Ingenieuren und Handwerkern bei Bulthaup. Eine prismatisch geformte Struktur schafft eine Grundordnung für Arbeitsgeräte und Besteck. Sie kann nach Lust und Laune eingeteilt werden durch viele kleine Reiter aus Edelstahl. Schultes schiebt sie hin und her, „wie ein Diskjockey seinen Regler", erklärt er und lächelt verschmitzt. Die persönliche Ordnung kann jederzeit neu festgelegt werden. Ein wunderbares analoges Spielzeug. Doch damit nicht genug: Die Beweglichkeit, die Flexibilität, die Freiheit, Dinge im Raum variabel anzuordnen, die das Prisma bietet, soll die Küche insgesamt revolutionieren. Zunächst wandert es dazu an die Wand. Eine Studie mit einer nur zehn Millimeter dünnen Arbeitsplatte aus Beton „Konzept Beton" genannt, zeigt auf, wie das Prisma als Strangpressprofil die Wand strukturiert. Eingehängte Regale, ein Kühlschrank oder Küchenmaschinen werden zu Leichtgewichten, die mit zwei Fingern der Wand entlang schweben und (frei nach Otl Aicher) die Arbeitsfläche wieder frei geben: „Die Küche zum Kochen".
Bulthaup müsse „zurückfinden zu den Werten, die uns Otl Aicher mitgegeben hat", sagt denn auch Marc O. Eckert, der zugleich den Bedürfniswandel und neue Erfahrungswelten des Internets in Erinnerung ruft. Diesen Veränderungen müsse die Küche angepasst werden. So soll aus dem „Konzept Beton" bald schon ein Produkt werden. Von der Wand her wächst die Küche der Zukunft in den Raum, als Symbol für ein neu verstandenes, spielerisches Verhältnis von Freiheit und Ordnung.