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Verstoffwechselte Speichermasse

In Göttingen haben Atelier ST mit dem neuen Kunsthaus einem alten Plan in einem noch älteren Kontext endlich zum Gelingen verholfen.
von David Kasparek | 03.06.2021

Die Idee entstand 1970. Der Verleger Gerhard Steidl war damals zwanzig Jahre alt. Gemeinsam mit ein paar anderen jungen Menschen und einem engagierten Kulturdezernenten entwickelte man die Vision, ein ambitioniertes Haus für zeitgenössische Kunst in Göttingen zu etablieren – im Kleid aktueller Architektur. Und da manche Ideen, um Realität zu werden, etwas länger brauchen als andere, wird das Kunsthaus Göttingen erst in diesem Jahr eröffnet. Der einst junge Verleger ist heute als Siebzigjähriger ein angesehener Meister seines Fachs, aber auch das Haus hat eine wechselhafte Geschichte hinter sich. Aus dem 2015 ausgelobten Wettbewerb mit angeschlossenem VgV-Verfahren ging 2016 mit nur einer Jury-Stimme Mehrheit der Entwurf des Kasseler Büros Atelier 30 als Sieger hervor. In der folgenden Verhandlung bestätigten sich die Zweifel einiger Jurymitglieder am Konzept, die geforderte Ausstellungsfläche auf nur zwei Geschossen unterzubringen. Die ArchitektInnen traten von ihrem Recht auf Ausführung zurück und machten so den Weg für den zweitplatzierten Entwurf frei. Der stammte von Atelier ST aus Leipzig. Für Silvia Schellenberg-Thaut und Sebastian Thaut als Architektin und Architekt BDA im wahrsten Sinne eine Ehrensache, am Verhandlungsverfahren erst teilzunehmen, als die eigentlich Erstplatzierten zurückgetreten waren. Zum einen, um den Wertekanon innerhalb des Berufsstandes zu wahren, zum anderen um das Urteil der Jury nicht zu diskreditieren.

Nun aber ist das Haus in der Düsteren Straße fertig, wo einst die Tuchmacher ihre Ware zum Trocknen quer über die Gasse hängten und sie damit verdunkelten. Als Partner vor Ort fungierte die Göttinger ONP planungs + projekt GmbH. ­Gerhard Steidl ist immer noch an Bord. Auf der Website des Kunsthauses lässt er, der der Stadt das Grundstück zur Verfügung stellte und inzwischen als Gründungsdirektor fungiert, sich wie folgt zitieren: "Über die Ausstellung internationaler Kunst hinaus versteht sich das Kunsthaus Göttingen als Ort für Bildung, Vermittlung und Interaktion mit Kunst." Der Neubau ist Teil eines noch immer wachsenden Kunstquartiers. Neben dem Steidl-Verlag, einer Buchbinderei, einem Boutiquehotel und Buchläden, befindet sich hier auch das Günther-Grass-Archiv. Es ist der südliche Nachbar des neuen Kunsthauses – ein Fachwerkhaus aus dem Jahr 1307, andere Quellen sprechen von 1310. Wie auch immer: sehr alt, sehr erhaltenswert und sehr fragil, wenn direkt nebenan gebaut werden soll. Der nördliche Nachbar ist immer hin rund 200 Jahre jünger, inzwischen aber eben auch schon merklich betagt. Eine immense Herausforderung für die Baustelle: "Wegen des hohen Grundwasserspiegels in diesem Bereich, vor allem aber wegen der historischen Nachbarbebauung, die es zu schützen galt, waren die Arbeiten für den Keller sehr aufwändig und kostenintensiv", sagt Sebastian Thaut. Der Architekt erklärt: "Um möglichst viel Ausstellungsfläche bereitzustellen, haben wir Technik, Lager, WCs und Garderoben im Keller platziert."

Die beiden historischen Nachbarn mussten aufwändig gesichert werden: abfangende Bohrpfahlgründungen wurden durch zusätzliche Injektage schräg unter die bestehenden Nachbarfundamente der kleinen Fachwerkhäuschen eingebracht. Das Depot im Keller galt es aufgrund des Grundwassers auf dem Niveau von Unterwasserbauwerken zu betonieren. "Wir mussten dem Gewerk Betonbau alles abverlangen, was derzeit Stand der Technik ist", sagt Thaut. Über dem aufwändigen Tiefgeschoss gehen drei Stockwerke und ein ausgebauter Dachstuhl auf. "Die Idee des kleinen footprint des Hauses, das sich von Geschoss zu Geschoss weiter in den Straßenraum schiebt, kommt direkt von den alten Fachwerkgebäuden", erklärt Sebastian Thaut die historische Referenz der kleinen Auskragungen in jedem Stockwerk. Dabei ist das Haus merklich größer als seine Nachbarn: "Wir wollten zum einen kontextuell bauen, Gegebenheiten des Ortes aufnehmen, gleichzeitig aber auch zeigen, dass hier ein neues Haus steht. Das darf sich dann auch im Material und der Größe des Gebäudes abbilden." Der Neubau reizt "bis auf den letzten Zentimeter" alles aus, was der Bebauungsplan für First- und Traufhöhe vorsieht. "Alles, um möglichst viel Ausstellungsfläche zu generieren", so Thaut. Der Plan geht auf. Von einem "Raumwunder" spricht Steidl. Denn in der Tat sind die rund 500 Quadratmeter Ausstellungsfläche bei der Grundstücksfläche von knapp 140 Quadratmetern eine echte Überraschung.

Das Kunsthaus Göttingen versteht sich als Ausstellungsort für Fotografie, Arbeiten auf Papier und neue Medien. Dazu sind umfangreiche Begleitprogramme geplant – insbesondere für Kinder und Jugendliche. Ute Eskildsen, einst stellvertretende Direktorin des Folkwang Museums in Essen, konnte als Gründungskuratorin gewonnen werden, die Stadt und ArchitektInnen schon während Planungs- und Bauphase begleitete. Als Gastkurator tritt Joshua Chuang auf, der Leiter der Wallach Division of Art, Prints & Photographs und Kurator für Fotografie an der New York Public Library. Eine eigene Sammlung gibt es nicht und soll auch nicht entstehen. Stattdessen möchte man in drei bis vier Wechselausstellungen pro Jahr sowohl jungen Künstler:innen der lokalen Szene wie internationaler Herkunft die Möglichkeit geben, ihre Arbeiten einem breiten Publikum zu präsentieren. Von Beginn an war es ein Ziel, einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zu zeitgenössischer Kunst zu ermöglichen. Und so ist der Eintritt im neuen Kunsthaus frei.

Zwischen seinen Nachbarn steht der Neubau nun gleichermaßen selbstbewusst wie selbstverständlich da, erinnert dabei an mittelalterliche Speicherhäuser. Sebastian Thaut sagt: "Zwei Dinge haben uns vor Ort beeindruckt: zum einen die pittoreske, alte Kernstadt mit ihren traufständigen Fachwerkhäusern, zum anderen die Papierstapel in den Räumlichkeiten von Gerhard Steidl." Ursprünglich sollten sich die Schichtungen der lagernden Papiere in einem Mauerwerk mit tiefliegenden Lagerfugen und in der Tiefe verspringenden Steinlagen abbilden. Bei dem äußersten knappen Budget war diese Idee allerdings nicht realisierbar. Neben privaten Geldgebern und den Fördermitteln des Bundes musste die Stadt Göttingen lediglich zehn Prozent der Baukosten übernehmen, die Kostensteigerung für die Fassade wollte man dennoch nicht mittragen. Es ist Silvia Schellenberg-Thaut, Sebastian Thaut und ihrem Team zu verdanken, dass der nun ausgeführte Zustand nicht nach einer Notlösung aussieht. Im Gegenteil. Der gekämmte Modelierputz auf der Fassade erzeugt ein feines Bild horizontaler Schichtungen, die Analogie zu den Papierstapeln des benachbarten Verlags und seiner Werkstätten hat den Stoffwechsel vom Mauerstein zum Putz überdauert.

Außer dem Eingang nebst Büro und Foyer zeigt sich der Bau zur Düsteren Straße hin weitestgehend geschlossen, zwei Fenster nur, je eines pro Geschoss, öffnen sich zur Stadt. Im Inneren haben Atelier ST das Kunsthaus stringent aufgeräumt und klar organisiert. Etwa im Verhältnis zwei zu drei teilt eine orthogonal zur Straßenfassade angelegte Organisationsachse das im Grundriss unregelmäßig viereckige Haus und durchmisst es in der gesamten Breite. Zwei Treppenhäuser und ein Aufzug erschließen die beiden Seiten nördlich und südlich davon. Durch einen Luftraum zwischen Erdgeschoss und ersten Stock weitet sich der kleinere, nördliche Teil und öffnet den Bau innenräumlich zwischen Düsterer Straße und Garten. Im ersten Stock findet sich ein kleines Kabinett, darüber wird der Platz des Luftraums dem kleineren Ausstellungsraum zugeschlagen. Die Südseite der Erschließungsspange nimmt jeweils ein großer, rund 3,40 Meter hoher Ausstellungsraum ein. Spannbetondecken mit vorgespannten Stahladern machen die Stützenfreiheit über die gesamte Tiefe des Raums möglich. Der bis unter das spitze Dach ausgebaute oberste Raum schließlich überrascht mit einer in die Hausfigur eingeschnittenen Dachterrasse, die den Blick über die Stadt freigibt.

Auch in den Räumen zeigt sich das Credo, dem die ArchitektInnen beim gesamten Projekt gefolgt sind: "Wir haben das Haus von Anfang an als robustes Workshopbuilding und als einen, für alle offenen Aktionsort verstanden", sagt Sebastian Thaut. "Vor diesem Hintergrund und dem vergleichsweise engen Budget haben wir, ähnlich wie bereits beim Lutherarchiv in Eisleben, auf das Prinzip 'Rohbau gleich Ausbau' gesetzt". Gemeint sind damit möglichst einfach zu bedienende und fehlerunanfällige Technik – die zudem nicht versteckt wird – und einfache Details. "Es sollte, bis auf die Wandflächen der Ausstellungsräume, alles roh bleiben", erklärt Thaut. In der Tat zeigen sich die Innenräume überraschend rau. Das Treppenhaus ist in einem guten, aber nicht über die Maße fetischisierten Beton ausgeführt, die Fugenbilder gehen dennoch auf, die Oberflächen wirken auch auf den Treppenstufen angemessen. Ein Eindruck der sich in den Ausstellungsräumen fortsetzt. Die Sichtbetondecke ist im selben Duktus fortgeschrieben, aber um ein Schienensystem ergänzt, in das verschiedene Leuchten genauso eingehängt werden können wie die Deckenelemente, die Heizung, Kühlung und Akustik regeln. Notwendige Kanäle aber wurden nicht versteckt. Dafür konnte die Beleuchtung mit aufwändiger Dali-Steuerung ausgeführt werden, was den KuratorInnen wiederum Freiheiten in der Bespielung der Räume ermöglicht.

Genau wie die Wände, die einem klassischen White Cube folgend, mit einer Art Vorwandinstallation ausgeführt wurden und so aus der unregelmäßigen hier ein gänzlich rechtwinklige Grundrissfigur macht: Auf einer Metallkonstruktion vor dem Rohbau liegt eine dicke OSB-Platte, auf die zwei Lagen Gipskarton aufgebracht wurden. So können die AusstellungsmacherInnen beispielsweise mit einfachen Holzschrauben arbeiten lassen und sind nicht auf Spezialdübel angewiesen. Sollten dereinst zu viele verspachtelte Löcher im Gipskarton sein, kann die oberste Schicht separat ausgewechselt werden. In die geschliffenen Betonböden wiederum sind keinerlei Tanks, Dosen oder sonstige Öffnungen eingelassen. Jegliche Medien- und Leitungsstränge verlaufen in den Sockelleisten, die bündig mit den Wänden ausgeführt wurden.

So merkt man dem Kunsthaus Göttingen heute, fünfzig Jahre nach der Vision von damals, die erwähnten budgetären Zwänge beileibe nicht an. Die Ansprüche waren von Beginn an hoch: "Im Vorfeld hieß es, das Kunsthaus solle sich zwischen Institutionen aus Paris und London etablieren", erinnert sich Thaut. Rein räumlich wenigstens ist die Chance dazu gegeben.

Kunsthaus Göttingen

Düstere Str. 7
37073 Göttingen
Telefon: +49 (0) 551 507 688 70

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Atelier ST Kunsthaus Göttingen