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Ein ganz und gar erlogenes und erstunkenes Architekturmärchen

Weder den Namen der Stadt, noch des Landes wissen wir genau, nicht einmal wie der Mann mit Nachnamen hieß, über den ich die nachfolgende Geschichte aufgezeichnet habe. Ein Märchen von Arno Lederer, illustriert von James Turek.
27.12.2016

Dieser junge Mann wuchs in einem Land auf, das als eines der sichersten in der Welt gilt. Aber nicht nur das: es hatte sich über viele Jahre ebenso den Ruf erarbeitet, auf einem Sondergebiet der Ökonomie, nämlich dem Erfinden von Einsparungen, eine absolute Spitzenstellung einzunehmen. Ob sich daraus der Wohlstand entwickelt hatte, auf den seine Einwohner besonders stolz waren, wissen wir nicht. Auch wissen wir nicht, ob sich diese besonders glücklich priesen. Von Zufriedenheit kann man aber insofern sprechen, als sich durch eine Vielzahl von Gesetzen, Vorschriften und Normen ein Gefühl bei den Bürgern einstellte, das jeden in der Überzeugung wiegte, sich um nichts mehr kümmern zu müssen. War doch alles im Leben dieser Menschen einem Regelwerk unterworfen.

So wuchs Karl-Friedrich (um ein Beispiel zu nennen, das die Handlung bestimmt) in einem Haus auf, das er in der Zeit des Heranwachsens nie verlassen hatte. Das war nun ganz und gar nicht ungewöhnlich, weil es überhaupt nie einen Anlass dazu gegeben hätte. So kam es, dass er das Gebäude nur von innen wirklich kannte, obwohl er auf einem der zahlreich im Hause verteilten Bildschirme, die zugleich als Innenwände die Räume voneinander trennten, sah, was sich angeblich außerhalb vor dem Haus und in weiterer Entfernung abspielte. Die Großeltern, die ebenfalls in diesem Haus wohnten und in einer Zeit aufgewachsen waren, als offensichtlich das Leben noch von Unsicherheiten geprägt war, berichteten von Gestank und Lärm, denen man ausgesetzt war, wenn man die eigenen vier Wände verließ. Auch den Gefahren des Verkehrs, von unangenehmer Hitze und Kälte, von Eis und von Wasser, das vom Himmel schüttete. So wog sich Karl-Friedrich in der Gewissheit, den Vorzug zu haben, in der besten aller Welten* aufwachsen zu dürfen.

Deshalb stellte er nie Fragen, die die eigentliche Größe oder das Aussehen des Hauses von außen betrafen. Er kannte nur die Wohnung, die freilich so groß war, dass sie sich über mehrere Geschosse erstreckte. Die Eltern priesen die Ruhe, da dank der vom Land verabschiedeten Vorschriften die Abschirmung zu den Lärmquellen hervorragend war. Nachbarn waren nicht die, die über oder neben einem wohnten, sondern allesamt nette Leute, die über das soziale Netzwerk kommunizierten, als säßen sie einem direkt gegenüber. Da man die Freunde dreidimensional auf den eben beschriebenen Wänden im sozialen Netz treffen konnte, zum Beispiel zum Essen oder einfach zum Gedankenaustausch, brauchte man sich nicht der Mühe zu unterziehen, einen anderen Ort aufzusuchen.

Lediglich in sehr schwierigen Situationen, etwa bei Krankheiten, die nicht durch Anleitung über die Bildschirme zu behandeln waren, bestieg man durch eine Luke in der unteren Etage ein selbstfahrendes Mobil. Dort saß man einem Monitor gegenüber, der wie zuhause einen Blick auf die Umgebung bot. Einmal im Jahr kam ein Chief Operator des Facilitymanagements zur Überprüfung der Funktionstüchtigkeit der Wohnung vorbei. Eigentlich genügte die Überwachung der technischen Einrichtung, die Sicherheit und den Komfort betreffend, von einer zentralen Stelle aus, deren wirklichen Standort keiner genau wusste. Aber die Vorschrift wollte es so, dass an Ort und Stelle ein Spezialist die technische Ausrüstung in Augenschein nahm. Das waren für Karl-Friedrich stets spannende Tage.

Der freundliche Mann hatte Messgeräte zur Hand, mit denen er nicht nur prüfen konnte, ob die konstante Raumtemperatur, die Luftfeuchtigkeit und Feinstaubbelastung auch ja nicht um ein Promille abwich, die Beleuchtung von 1.000 Lux, sowie die Lichtfarbe in allen Winkeln der Wohnung noch gewährleistet war, sondern beispielsweise auch, ob die Sprachalarmierung bei eventuellen Fehlern in allen Räumen die notwendige Verständigungsqualität zusicherte. Er ließ sich auch zur Probe die Treppen herunterfallen, um zu prüfen, ob die elektronisch gesteuerten Stufen bei Gefahr in Sekundenbruchteilen ihre Härte verloren, gummiweich wurden und die Fangnetze sich explosionsartig aufspannten, in denen er dann weich landete, was Karl-Friedrich besonders imponierte. Das aber sind nur einige wenige Beispiele der Prüfungen, die durchgeführt werden mussten. 

Einmal, als der Chief Operator eine kleine Luke in der Wand öffnete, um nachzuschauen, ob die Schadensfreiheit der Wärmedämmung gegeben war, erhaschte Karl-Friedrich, der dem freundlichen Mann über die Schulter blicken konnte, einen Blick ins Freie. Die Klappe maß gerade Mal 50 auf 50 Zentimeter, weshalb man, aufgrund der einen Meter starken Wärmedämmung, wie durch eine Schießscharte schauen konnte. Doch wie enttäuscht war er, als das taghelle Quadrat die Sicht auf eine Umgebung freigab, die dem grauen Inneren einer Waschmaschine glich. Manchmal huschte eine Drohne vorbei, die mit der Ver- und Entsorgung von Wohnungen beschäftigt war, oder ein selbstfahrendes Mobil, dessen fensterlose Metallhülle ebenso grau war, wie die Wände der Gebäude, die die Umgebung ausmachten. 

Gerade, als der ansonsten wortkarge Mann, der sich völlig auf seine Aufgabe der Kontrolle konzentriert hatte, die Luke schließen wollte, erkannte Karl-Friedrich ganz hinten am Horizont einen schlanken, spitz zulaufenden Körper, der sich aufgrund seiner nutzlosen Verzierungen, die man ausmachen konnte, aus der grauen Umgebung abhob. Er fragte, was das denn für ein lustig-spitziger Gegenstand sei, der da in weiter Entfernung zu sehen sei. Da huschte ein Lächeln über das Gesicht des Operators. „Das“, erklärte er, „ist ein vergessenes Stück Architektur.“ „Architektur?“, fragte Karl-Friedrich „was ist denn das?“. „Na ja, das ist aus einer Zeit in der es solche Dinge, wie ich sie zu prüfen habe noch nicht gab, wie auch den Beruf, dem ich nachgehe, noch niemand ausgeübt hat. Das, was Du da hinten gerade gesehen hast, ist die Spitze eines Kirchturms. Man hat Gebäude gebaut, die eigentlich keine richtige Funktion hatten. Die Menschen glaubten mehr, als sie wussten und heute wissen wir mehr, als wir glauben. Sie glaubten zum Beispiel nicht nur an Gott und den Himmel, sie glaubten auch, dass die Gegenstände, die sie umgaben, wozu auch die Gebäude, ja ganze Städte gehörten, in ihren Formen das eigene Weltbild widerspiegeln sollten.“ „Dann ging es gar nicht um die Funktion, um Sicherheit durch Technik, sondern nur um die Gestalt? War es das, was ich einmal in einem Film gesehen habe, was die Menschen damals mit Schönheit bezeichnet haben?“ „Das weiß ich auch nicht so genau“, antwortete der Mann, „auf jeden Fall machten sie Dinge, die nicht beweisbar waren. Der Entwurf von Architekten beanspruchte damals 60 Prozent der gesamten Baukosten. Und heute, wo wir keine Architekten mehr benötigen, ist es unsere hervorragende Technik, die uns Sicherheit und Wohlbefinden bietet und die 60 bis 70 Prozent der Kosten eines Gebäudes ausmacht.“ 

„Architekten?“ fragte Karl-Friedrich. „Ja, Architekten. Das waren die Leute, die sich ausdachten wie ein Gebäude sein könnte. Heute schätzen wir uns glücklich, mit Computer und BIM viel genauer planen zu können. Diese sind es ja, die die Funktion, die Sicherheit, den Energieaufwand und den Materialverbrauch, also alle denkbaren und berechenbaren Parameter, exakt als Datenmaterial zuverlässig nutzen und fehlerfrei nur ein Ergebnis produzieren. Architekten wussten dagegen nichts Genaues, sondern von allem nur ein bisschen. Deshalb sah jedes Gebäudes anders aus. Was für eine Verschwendung. Ja, das war die Zeit der Generalisten. Du musst wissen, erst wir, die Spezialisten, haben dafür gesorgt, dass die Welt sicherer wurde, dass wir eigentlich gar keine Energie verbrauchen und dass wir das alles kontrolliert und kostengünstig zu liefern und zu errichten wissen. Wie wichtig der Staat die Aufgabe der Spezialisten, wie ich einer bin, sieht, kannst Du daran erkennen, dass die Planungskosten durch unsere wertvolle Arbeit bei über 30 Prozent der Baukosten liegen. Früher, als es noch Architekten gab, lag diese Zahl bei 15 bis 18 Prozent der Baukosten. Kein Wunder, dass die Leute massenhaft über zu niedrige Geländer und unsichere Treppen stürzten, nicht lesen und nicht schreiben konnten, weil die Räume mit zu wenig Lux versorgt wurden, oder die Luft zu kalt und zu schlecht war. Dazu rafften Krankheiten der Atemwege die Menschen wie Mücken dahin."

„Aber bei dem was Sie da schildern, müsste ja über die Hälfte der Menschheit ausgestorben sein“, bemerkte Karl-Friedrich. Da wendete sich der Chief Operator verärgert wieder seiner Arbeit zu. „Bitte, noch eine Frage“, bat Karl-Friedrich höflich. „Gibt es überhaupt noch Architekten und wo lernen die diesen Beruf?“ Er kenne keinen, meinte der Mann widerwillig, aber er habe gehört, dass hinter dem vorbildlichen Landesteil Technokratien, wenn man den Mut habe, die Grenzen zu überwinden, ein völlig unterentwickeltes und unsicheres Land liege, in dem es noch so seltsame Berufe wie die des Architekten gebe. Karl-Friedrich hatte dem Operator aufmerksam zugesehen, wie dieser rasch die Luke in der Wand zuklappte. So prägte er sich die Zahlenkombination ein, mit der diese zu öffnen war. Tag für Tag, wenn er niemand in der Nähe wähnte, öffnete er das Guckloch nach außen und betrachtete den in der Ferne sichtbaren Kirchturm. Da überkam ihn eine seltsame Sehnsucht und eine ungewisse Ahnung von einer Welt, die ihm bislang verschlossen war. Er überwand sich, einen Hacker zu kontaktieren, der ihm Zugang zu gesperrten Seiten im Netz verhelfen konnte. „Architektur?“, wunderte sich dieser, „also, ich habe schon viele unmögliche Anfragen gehabt, aber Architektur? Das ist nun wirklich was ganz Neues.“

So kam Karl-Friedrich zu einer riesigen Bibliothek, die ausschließlich aus Texten und Bildern zur Architektur bestand. Nachts, wenn alle im Haus schliefen, begann nun sein Tag, indem er sich nicht nur die Abbildungen einverleibte, sondern sich ebenso dem Studium von Grundrissen, Schnitten und Ansichten widmete. Er sah, welch schöne Häuser und ganze Städte es einmal gegeben haben musste, und nach einem Jahr kannte er alle großen Namen, die die Architektur über Jahrhunderte hin geprägt hatten. Den Eltern blieb die Veränderung ihres Sohnes nicht unbemerkt. Sie machten sich große Sorgen. Sie dachten darüber nach, ihn, wie es üblich war, nicht mehr psychiatrisch über den Bildschirm zuhause weiter behandeln zu lassen, sondern ihn außer Haus einem Spezialisten zuzuführen. Wie wunderten sie sich aber, als dieser ihrer Absicht nicht nur zustimmte, sondern ihnen darüber hinaus einen Vorschlag für eine besonders wirksame Behandlung unterbreitete, die allerdings eine Reise nach Technokratien voraussetzte. „Aber da bist Du ja in sichersten Händen“, riefen beide Eltern spontan, halfen ihm die notwendige Utensilien zusammenzupacken und bestellten eine autonom fahrende Kapsel, die Karl-Friedrich zum genannten Ort bringen sollte.

Er hatte die psychiatrische Praxis gut ausgesucht, lag sie doch genau an der Grenze zum Nachbarland, von dem der Chief Operator gesprochen hatte. Und nicht nur das, sie lag auch in dem Gebäudekomplex, in dem sich die verschiedensten Einrichtungen befanden, die die Gesetze, Regeln, Normen und Verordnungen nicht nur ständig neu erfanden, sondern auch über deren Einhaltung strengstens wachten.

Dass diese behördenartigen Stellen mit der psychiatrischen Praxis eine Einheit bildeten, hatte natürlich seinen Grund. Denn, wie wir erfahren haben, handelte es sich um die Grenzstation zwischen Technokratien und dem Land, das, wie Karl-Friedrich inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, Kulturien hieß. Jenem Land also, in dem es noch Architektur geben sollte. Man hatte die Ämter dorthin gebaut, um Flüchtlinge, die von Kulturien auf die andere Seite wechseln wollten, zuerst einmal in den Fragen der Sicherheit, der energetischen und ökonomischen Felder, des Brandschutzes wie auch des Controllings zu unterrichten. Die Psychiatrie war deshalb am selben Ort untergebracht, weil man aus wissenschaftlichen Erhebungen wusste, dass Flüchtlinge durch den abrupten Wechsel zwischen den glaubensbasierten Grundlagen des einen Landes und den belegbaren Wahrheiten der MINT-Fächer auf der eigenen Landesseite einen Schock erleiden könnten. Allerdings gab es zu diesem Thema noch keine belastbaren Zahlen, weil es bislang auch keine Flüchtlinge gab, die die Grenze von Kulturien nach Technokratien überschreiten wollten. Wer aber die Absicht hatte, nach Kulturien auszuwandern, musste zunächst im eigenen Land Prüfungen bestehen, um die Flüchtenden vor einer vermeintlichen Gehirnwäsche der anderen Seite zu bewahren. Denn man war, wie gesagt, der festen Überzeugung, selbst in der besten aller möglichen Welten zu leben. Karl-Friedrich hatte aber vor (wie wir, ohne es anzusprechen, leicht ahnen können) seiner Heimat den Rücken zu kehren, weshalb er nach nicht ganz einfacher Antragstellung bei einer Auswahl von wichtigen Amtspersonen vorsprechen musste.

Gerade, als er sich der Türe näherte, wurde er von einer steinalten Bettlerin, die rechts neben dem Eingang hockte, angesprochen. Er erschrak, hatte er doch bislang noch nie solche Personen gesehen. Ob sie wohl auch versucht hatte, die Grenze in das andere Land zu überqueren und daran scheiterte? Das beschäftigte ihn, da er dieses Schicksal nicht teilen wollte. Also nahm er sich ein Herz und fragte die Frau direkt, welche Umstände dazu geführt hätten, dass sie nun in einer solch erbärmlichen Verfassung neben dem Eingang hockte. Sie gab sich als eine ehemalige Mitarbeiterin eines öffentlichen Bauamtes aus, das jedoch vor vielen Jahren schon geschlossen worden war. Dort hätte sie die Aufgabe gehabt, die Honorare der Architekten, die sie zu betreuen hatte, auf ein Minimum zu kürzen, ihnen regelmäßig Versäumnisse und Mängel in der Planung vorzuwerfen. Im Endeffekt hätte sie sich damit selbst das Bein gestellt, wollte doch kein Architekt mehr für das Bauamt, in dem sie tätig war, arbeiten. Da sei die Einrichtung eben geschlossen worden und sie sei sozusagen von heute auf morgen auf der Straße gelandet. Seit vielen Jahren, sie habe schon gar keine Erinnerung mehr, wie viel es tatsächlich gewesen waren, versuche sie nun, den Schaden, den sie angerichtet habe, wieder gut zu machen und nach Kulturien auszuwandern. Und eben so lange bemühe Sie sich, die Prüfungen, die ihr dafür auferlegt werden, zu bestehen, was ihr aber immer wieder misslungen sei. Karl-Friedrich hörte sich die Geschichte an, wusste aber nicht, was er dieser Person sagen sollte, sprach sich selbst Mut zu und betrat das große Gebäude. Die Prozedur, der sich Karl-Friedrich dort zu unterziehen hatte, fand in einzelnen, nach Themen geordneten Räumen statt. Hatte man die Prüfung in einem Raum hinter sich gebracht, führte der Weg zwangsläufig in einen zweiten und dritten Raum und so fort.

Er öffnete nun die Türe zu dem ersten Raum, der ihm zugewiesen wurde. Über dem Türsturz flackerte grellrot der Schriftzug „Brandschutz“. Mitten im Raum stand ein uniformierter Feuerwehrmann mit Atemschutzmaske, der gleich mehrere Feuerlöscher auf seinen Rücken geschnallt hatte. Unzählige weitere Feuerlöscher waren ebenfalls griffbereit im Raum verteilt. Tausende von Löschdüsen zierten die Decke, die Wände waren übersäht von Brandschutzklappen und Fluchtschildern, Rauchschutzvorhängen und Lautsprechern zur Schallarmierung. Nachdem der Brandmeister seine Atemschutzmaske abgenommen hatte, fragte er Karl-Friedrich, mit wie vielen Toten das Land durch Hausbrand im Jahr zu rechnen habe. „400“, antwortete Karl-Friedrich, der sich gut vorbereitet hatte und fügte hinzu „man weiß aber nicht, wie viele davon durch technische Fehler des Gebäudes oder durch menschliches Versagen umgekommen sind.“ Diese Zahl stimme zwar, fauchte der Mann, „aber das mit dem menschlichen Versagen werden wir noch in den Griff bekommen. Wir haben riesige Forschungsabteilungen, die Jahr für Jahr neue Erkenntnisse gewinnen, um diese in Gesetzesformen zu gießen. Ist Ihnen überhaupt bewusst, welche immensen Summen wir aufwenden, um die Rate von 400 weiter zu verringern? Wir sprechen da nicht von Peanuts, sondern von vielen Millionen, wenn nicht gar Milliarden.“ Karl-Friedrich meinte darauf, er wisse, dass im Lande jährlich circa 200.000 Menschen an Krebs und ebenso viele an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben würden. 15.000 kämen durch Arztfehler zu Tote und 5.000 bis 6.000 Menschen durch Verkehrsunfälle. Würde man die Milliarden, die für Ihre Forschung und die baulichen Maßnahmen aufgebracht werden müssen, in die Vorbeugung und Behandlung von Krebs- und Kreislauf-Krankheiten stecken, könnten da nicht erheblich mehr Menschenleben gerettet werden? Diese Frage löste bei dem Prüfer einen Wutanfall aus. Er wurde krebsrot, kleine Flämmchen zischelten aus Mund, Nase und Ohren. Da packte Karl-Friedrich einen der umherstehenden Feuerlöcher am Griff und richtete den Strahl des Löschschaums in den vor Wut weit geöffneten Mund seines Gegenübers. Dieser verstummte augenblicklich, riss die Augen weit auf und sank ohnmächtig zu Boden. Karl-Friedrich aber ging zur Türe, die zum nächsten Raum führte und die mit „Sicherheit bei Treppen, Brüstungen und Fluchtwegen“ überschrieben war.

Dieser Raum war mehrgeschossig ausgebildet. Gegenüber der Türe gab es in großer Höhe eine Galerie, die mit einem überhohem Geländer den Raum überspannte. Verbunden waren die Ebenen mit einer mehrläufigen Treppe, bei der jede Stufe durch einen hellen und geriffelten Streifen an der Vorderkante gekennzeichnet war. An der Wand hingen große Plakate mit Treppen, alle mit einem roten Kreuz überpinselt. Karl-Friedrich erkannte aufgrund seiner Studien sofort alle durchgestrichenen Treppen: jene von Balthasar Neumann und Leonardo da Vinci, die Scala Regia, ebenso wie die spanische Treppe in Rom, aber auch die gewendelte Treppe von Niemeyer, oder Arne Jacobsens Treppe der Landesbank in Kopenhagen. 

Plötzlich stand hinter ihm ein kleines, sehr drahtig aussehendes und in einem unscheinbaren grauen Anzug gekleidetes Männchen, das mit einem aufgeklappten Meterstab wild in der Luft herumfuchtelte. „Das geht alles nicht. Unsicher, gefährlich und verboten“, fauchte er. „Hier, so muss eine Treppe sein“. Das Männchen richtete den Meterstab zur Treppe, die zur Galerie führte. Karl-Friedrich, durch den Ausgang der ersten Prüfung ermutigt, rief spontan: „Aber wie hässlich diese Treppe ist: kein Untertritt, die vielen Handläufe rechts und links und um die Podeste herum, die weißen Streifen, die Beleuchtung der Stufen, da geht doch kein Mensch gerne rauf oder runter“. „Eine Treppe hat nicht schön zu sein, sondern nur sicher, junger Mann,“ belehrte ihn das Männchen. „Ich gehe die Treppe sehr gerne, weil sie so sicher ist und darüber hinaus preiswert, wie keine dieser fürchterlichen Beispiele an der Wand. Wenn Sie es mir nicht glauben wollen, dann zeige ich Ihnen, wie sie sich geht“ und er begann die Treppe zur Galerie auf und ab zu rennen. Oben hielt er sich am überhohen Geländer der Galerie kurz fest, als wolle er Karl-Friedrich „na bitte“ zurufen, machte kehrt und so ging das rauf und runter in einem fort. Plötzlich blieb er bei der zehnten Runde mit der Schuhspitze an einer der geriffelten Sicherheitsleisten an der Vorderkante der vierunddreißigsten Stufe kurz hängen, strauchelte und verhedderte sich mit der Krawatte an dem mit senkrechten Stäben dicht besetzten Geländer. Nachdem sich die Krawatte unglücklicherweise um seinen Hals geschlungen hatte, bekam er keine Luft, da sein Körper mehr und mehr nach unten der Schwerkraft folgte. Schließlich japste er nur noch in kurzen Atemzügen, worauf Karl-Friedrich sich dem nächsten Raum zuwandte.

„Controlling, Projektsteuerung, Investing, BIM“ las er auf der elektronischen Anzeigetafel. Schon beim Eintreten erkannte Karl-Friedrich, dass der nächste Prüfer, ein smarter junger Mann, nicht nur einen vermeintlich teuren Nadelstreifenanzug trug, sondern auch eine Rolex-Uhr sein Handgelenk umspannte. Lässig spielte dieser mit einem Fahrzeugschlüssel, auf dessen Anhänger ein schwarzes, sich aufbäumendes Pferd abgebildet war. Außerordentlich eloquent, begann er mit dem Anflug eines Lächelns über die Erfolge des Controllings und der Projektsteuerung, mit denen inzwischen alle denkbaren Bereiche des Lebens zu erfassen seien, auf unseren Freund einzureden. Karl-Friedrich fuhr dazwischen, indem es völlig unkontrolliert aus ihm herausbrach: „Wie ich sehe, haben Sie eine exzellente Sprachschulung erhalten, mit der Sie mich von der Richtigkeit Ihres Denkens und Handelns überzeugen wollen. Übrigens, wenn ich Sie so betrachte, sehe ich, dass der Anzug, den Sie tragen, aus billigen Kunstfasern ist, Ihre Uhr ein Piratenprodukt aus Fernost und der Schlüssel an diesem albernen Anhänger gehört zu dem Erste Hilfe Kasten hier neben der Türe. Im Übrigen sparen Sie am meisten Geld, wenn Sie mich sofort abschieben.“ Der Prüfer war vom spontanen und im Übrigen beleidigenden Einwurf Karl-Friedrichs geradezu überrannt worden, wusste nichts zu entgegnen und hatte in Sekundenbruchteilen eine Blutdruckerhöhung jenseits der messbaren Skalabereiche. Er riss sprachlos eine bislang unsichtbare Tapetentüre hinter sich auf, die sich geradewegs zum Nachbarland öffnete und schupste Karl-Friedrich ins Freie.

So gelangte, ohne sich weiteren Prüfungen unterziehen zu müssen, unser Held nach Kulturien und dort zur Architektur. Er studierte, lernte Theater und Konzerte kennen und wurde mit Dichtung und Philosophie vertraut. Nicht, dass er die Fragen der Ökonomie und der Sicherheit gänzlich vernachlässigte. Nein, er baute die schönsten Treppen, die schönsten Geländer, die schönsten Häuser und Straßen und die schönsten Städte. Mag sein, dass nicht alles so sicher und geregelt war, wie in seiner Heimat. Aber die Menschen hatten Freude an seinen Häusern und Städten. Sie tanzten, sangen in den Räumen, die er entwarf und freuten sich an den Erzählungen der Architektur. Und sie lernten dabei, gleichsam im Spiel die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, so dass es keiner exzessiven Regelungen durch den Staat bedurfte. Denn durch die ästhetische Erziehung, die er durch Studium eines seiner Lieblingsdichter genossen hatte, war dessen nachstehender Leitspruch in Wort und Gedanken fortan sein ständiger Begleiter: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." **

*  Candide oder der Optimismus, Voltaire, 1759
** Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Friedrich Schiller, 1795