Man könnte einen Text zu Friedrich Kiesler mit dem Anfang und dem Ende seines Lebens beginnen und schon entstünden im „Dazwischen“ mentale Landschaften der Erklärungen. Etwa so: Geboren 1890 in Czernowitz in der Bukowina, einer damals sehr multikulturellen Kleinstadt an den Schnittstellen von jüdischer, deutscher, rumänischer, ukrainischer und polnischer Kultur im Habsburgerreich. Gestorben 1965 in New York, sein Begräbnis wurde zum Happening. Der große amerikanische Poet E.E. Cummings hielt die Trauerrede, der Maler Robert Rauschenberg führte eine Performance auf, das Juilliard String Quartet spielte Mozart und Schönberg. Was aber war dazwischen?
Wenn jetzt im Museum für angewandte Kunst in Wien die große Ausstellung „Friedrich Kiesler. Lebenswelten“ zu sehen ist, dann muss man zuerst sagen, dass Kiesler in Wien natürlich schon längst kein Geheimtipp mehr ist. Spätestens seit der ersten großen Kiesler-Ausstellung im Historischen Museum 1997, Kurator war damals wie heute Dieter Bogner, wurde er auch für die jüngere Generation der heute Architekturschaffenden relevant. Die Kunde von diesem vielseitigen Außenseiter und Wanderer zwischen den Welten hatte sich aber schon viel früher in Wien ausgebreitet, und vielleicht war jenes mythenbehaftete Seminar von Günther Feuerstein an der TU Wien in den 1960er-Jahren damals Schuld daran – oder vielleicht, dass viele der Seminarteilnehmer später selbst Lehrstühle übernahmen und die Erzählung von Kiesler weitertrugen, in einer Art akademischem Schneeballprinzip.
Foto © Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien
Diese erste Ausstellung in Wien fand 1997 zu einer Zeit statt, als der diskursive Kampf zwischen „Box“ und „Blob“ seine Hochphase erreicht hatte. Das Yokohama Terminal von Foreign Office war zwar noch im Bau, die Renderings aber bereits weltweit publiziert. Und das UN Studio berief sich schon mit der Namensgebung ihres sich als Endlosschleife durch den Raum schraubenden „Möbius House“ mehr oder weniger direkt auf Kiesler. Der wurde in Wien vor allem wegen seines „Endless House“ als Prophet der biomorphen Architektur bei den Befürwortern des Blobs einsortiert. Aber wie liest man Kiesler heute?
Nun also die zweite große Kiesler-Ausstellung mit dem Titel „Lebenswelten“, wieder im MAK und wieder mit Dieter Bogner als Kurator, dieses Mal in einem kuratorischen Team mit Maria Lind und Bärbel Vischer. Kieslers Schaffen wird mittels einer umfangreichen Sammlung von Skizzen, Texten, Fotos, Plänen und mehreren großen Modelle präsentiert. Die Ausstellung kulminiert in der 1:1-Rekonstruktion der Pariser Raumstadt von 1925 im Eingangsbereich des MAK. Davor und danach finden wir die weiteren großen Themen Kieslers: Das Theater und die Ausstellungsgestaltung als lebensnahes Experimentierfeld. In einer sehr einprägsamen Nachbildung von Kieslers correalistischem Raum aus der „Art of this Century“-Galerie, die er 1942 für Peggy Guggenheim in New York entworfen hatte, wird klar, dass es in Kieslers Werken oft auch um die direkte Einbindung des Betrachters ging, um das Eintauchen in das Gesamtkunstwerk.
Foto © MAK/Georg Mayer
Auch in Kieslers radikaler „Raumbühne“, die er 1924 auf einer internationalen Ausstellung für neue Theatertechnik in Wien präsentiert hatte und die nun ebenfalls im MAK vorgeführt wird, dreht sich alles im wahrsten Sinne um dieses Thema: den Betrachter aus seinem Guckkasten herauszuholen und ihn in die Mitte des Raumes zu stellen. Es ist ein zentrales Thema in Kieslers Werk, ein Ausgangspunkt für sein gesamtes räumlich-künstlerisches Schaffen. Für die Kuratoren verdichtet sich das in der Ausstellung besonders in einer Fotografie: Sie zeigt Kiesler selbst in seiner massiven Holzinstallation „Big Galaxy“, die später von Nelson Rockefeller gekauft und in „Rockefeller Galaxy“ umbenannt wurde. Das Foto wurde erstmals in der April-Ausgabe des Magazins „Life“ unter der Überschrift publiziert: „Meant To Be Lived In“ – Gedacht, um bewohnt zu werden. Dies kann – laut Ausstellungstext – als Leitsatz für Kieslers „Lebenswelten“ verstanden werden.
Hinter der Raumstadt folgen in der Ausstellung seine Theorien für einen „correalistischen Entwurfsprozess“, die er von 1937 bis 1941 an der Columbia University in New York entwickelte und lehrte. Neben einigen Möbel- und Ladenentwürfen gelangen wir dann zu wichtigen Beispielen aus seinem Spätwerk, darunter vor allem zwei mit großer Symbolik aufgeladene Architekturen: die „Grotto of Meditation“, die nur in Modellen existiert, und der „Shrine of the Book“ in Jerusalem, das einzige größere Bauwerk, das Kiesler realisieren konnte und das erst 1965, wenige Monate vor seinem Tod, fertig gestellt wurde.
In diesem Teil der Ausstellung, in dem sich überdies zeitgenössische Künstler wie Leonor Antunes, Céline Condorelli, Apolonija Šušteršič und Rirkrit Tiravanija mit Kieslers Positionen auseinandersetzen, finden wir auch das „Endless House“. Steht man heute vor dieser berühmten Ikone aus Kieslers Werk, die zum Ausgangspunkt so vieler unterschiedlicher Architekturen geworden ist, so fällt vor allem die Rohheit und Unfertigkeit des Originals auf. „The Endless House is called ‚endless’ because all ends meet, and meet continuously“, schrieb Kiesler darüber. Das lässt sich sowohl topologisch als auch mathematisch lesen. Möglicherweise erzählen uns das Modell und die Fotos heute auch noch eine andere Geschichte.
Besonders als Modell wirkt das „Endless House“ wie eine Struktur, die in zeitlicher Hinsicht kein Ende haben darf. Sie wird zur Manifestation eines dauerhaft im Werden befindlichen Prozesses – und dies unterscheidet Kieslers Schaffen am deutlichsten von jenen „endgültigen“ Architekturen und „Gesamtkunstwerken“, in denen der Mensch nicht als Akteur, sondern nur als Teil des Inventars vorgesehen ist. Kieslers Prozesswerk hat nichts Erdrückendes, sondern schafft Spielmöglichkeiten und Offenheit. In der Unschärfe und im nicht klar definierten Dazwischen seiner Strukturen liegen unendliche Interpretations- und Nutzungsmöglichkeiten. Was in der Konsequenz bedeutet: Das „Endless House“ kann niemals nach Plan umgesetzt werden, weil es endlos viele Möglichkeiten von ganz unterschiedlichen „Endless Houses“ gibt.
Friedrich Kiesler ist in den großen Fragen zur Gesellschaft stets Künstler geblieben – und blieb dabei vielleicht hinter seinen systemtheoretischen Ansprüchen zurück. Andererseits liegt gerade in diesen vagen, diffusen Zwischen-Räumen sein Potenzial, stets aktuell zu bleiben und neu interpretiert werden zu können. So ist sein „Endless House“ im Grunde vor allem ein Einfamilienhaus, in dessen Modell er versucht, diese kleinste soziale und architektonische Sphäre in der komplexen Gesamtheit ihrer Bezüge auszuloten. Es sind diese Versuche von Friedrich Kiesler, die komplexen Bezüge der menschlichen Individuen zueinander, zur Welt, zum Raum und zu den Dingen grundsätzlich zu erforschen, die seine Arbeiten heute noch relevant erscheinen lassen.
Michael Obrist ist Architekt und lebt in Wien. Er ist Gründungsmitglied und Partner des Büros feld72 und seit 2014 Gastprofessor für raum&designstrategien an der Kunstuniversität in Linz.
Ausstellung
Friedrich Kiesler. Lebenswelten
Museum für angewandte Kunst
MAK Wien
bis 2. Oktober 2016
www.mak.at
Katalog
Friedrich Kiesler. Lebenswelten
hrsg. von Christoh Thun-Hohenstein, Dieter Bogner, Maria Lind und Bärbel Vischer
224 Seiten, Hardcover
Deutsch/Englisch
Birkhäuser Verlag, Basel 2016
39,95 Euro
Foto © Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien
Foto © Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien
Foto K. W. Herrmann, © 2016 Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien
Man könnte einen Text zu Friedrich Kiesler mit dem Anfang und dem Ende seines Lebens beginnen und schon entstünden im „Dazwischen“ mentale Landschaften der Erklärungen. Etwa so: Geboren 1890 in Czernowitz in der Bukowina, einer damals sehr multikulturellen Kleinstadt an den Schnittstellen von jüdischer, deutscher, rumänischer, ukrainischer und polnischer Kultur im Habsburgerreich. Gestorben 1965 in New York, sein Begräbnis wurde zum Happening. Der große amerikanische Poet E.E. Cummings hielt die Trauerrede, der Maler Robert Rauschenberg führte eine Performance auf, das Juilliard String Quartet spielte Mozart und Schönberg. Was aber war dazwischen?
Wenn jetzt im Museum für angewandte Kunst in Wien die große Ausstellung „Friedrich Kiesler. Lebenswelten“ zu sehen ist, dann muss man zuerst sagen, dass Kiesler in Wien natürlich schon längst kein Geheimtipp mehr ist. Spätestens seit der ersten großen Kiesler-Ausstellung im Historischen Museum 1997, Kurator war damals wie heute Dieter Bogner, wurde er auch für die jüngere Generation der heute Architekturschaffenden relevant. Die Kunde von diesem vielseitigen Außenseiter und Wanderer zwischen den Welten hatte sich aber schon viel früher in Wien ausgebreitet, und vielleicht war jenes mythenbehaftete Seminar von Günther Feuerstein an der TU Wien in den 1960er-Jahren damals Schuld daran – oder vielleicht, dass viele der Seminarteilnehmer später selbst Lehrstühle übernahmen und die Erzählung von Kiesler weitertrugen, in einer Art akademischem Schneeballprinzip.
Man könnte einen Text zu Friedrich Kiesler mit dem Anfang und dem Ende seines Lebens beginnen und schon entstünden im „Dazwischen“ mentale Landschaften der Erklärungen. Etwa so: Geboren 1890 in Czernowitz in der Bukowina, einer damals sehr multikulturellen Kleinstadt an den Schnittstellen von jüdischer, deutscher, rumänischer, ukrainischer und polnischer Kultur im Habsburgerreich. Gestorben 1965 in New York, sein Begräbnis wurde zum Happening. Der große amerikanische Poet E.E. Cummings hielt die Trauerrede, der Maler Robert Rauschenberg führte eine Performance auf, das Juilliard String Quartet spielte Mozart und Schönberg. Was aber war dazwischen?
Wenn jetzt im Museum für angewandte Kunst in Wien die große Ausstellung „Friedrich Kiesler. Lebenswelten“ zu sehen ist, dann muss man zuerst sagen, dass Kiesler in Wien natürlich schon längst kein Geheimtipp mehr ist. Spätestens seit der ersten großen Kiesler-Ausstellung im Historischen Museum 1997, Kurator war damals wie heute Dieter Bogner, wurde er auch für die jüngere Generation der heute Architekturschaffenden relevant. Die Kunde von diesem vielseitigen Außenseiter und Wanderer zwischen den Welten hatte sich aber schon viel früher in Wien ausgebreitet, und vielleicht war jenes mythenbehaftete Seminar von Günther Feuerstein an der TU Wien in den 1960er-Jahren damals Schuld daran – oder vielleicht, dass viele der Seminarteilnehmer später selbst Lehrstühle übernahmen und die Erzählung von Kiesler weitertrugen, in einer Art akademischem Schneeballprinzip.