Qualität vor Quantität
Am Ende des Krisenjahres 2020 sorgte eine Meldung für Entsetzen in der Architekturwelt: 14 der 18 Studentenunterkünfte des von Louis I. Kahn entworfenen Indian Institute of Management im indischen Ahmedabad sollten abgerissen werden. Die Reaktion in Form weltweiter Proteste ließ nicht lange auf sich warten und fiel entsprechend heftig aus. Mit der Verantwortung für das baukulturelle Erbe des amerikanischen Großmeisters konfrontiert, besann sich der Verwaltungsrat der Schule daraufhin eines Besseren und sagte den Abriss wieder ab. Der zwischen 1962 und 1974 erbaute Schulkomplex, der im Todesjahr des Architekten vollendet wurde, ist einer der Meilensteine in einem Oeuvre, das erst spät Form annahm: Kahn war bereits über 60 Jahre alt, als er Projekte wie das 1967 fertig gestellte Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla verwirklichen konnte, die seinen Weltruhm begründeten. Entsprechend überschaubar ist die Zahl seiner Gebäude, die aber gleichzeitig zu den beeindruckendsten Werken in der Architektur des 20. Jahrhunderts zählen. Am besten drückt das wohl I.M. Pei im Film "My Architect" aus, in dem sich der Sohn von Kahn auf die Spuren seines Vaters macht: "Qualität vor Quantität".
Aber was genau macht Kahns Bedeutung aus? Eine kurze Antwort könnte lauten: Die Zeitlosigkeit seiner Gebäude, die sich jeder stilistischen Kategorisierung entziehen. Entsprechend schwer lässt sich der Architekt aus Philadelphia in seiner Zeit verorten. Er zählt weder zu den Modernisten noch zu den Vertretern der Postmoderne wie sein Schüler Robert Venturi. Als architektonischer Solitär strebte er nach einer universellen und allgemeingültigen Formensprache, was auch in seinem Ausspruch "Was sein wird, ist immer schon gewesen" deutlich wird. Und so tauchen in seinen Gebäuden immer wieder Grundformen wie Kreis, Quadrat und Dreieck auf. Ihre archaische Gestalt weckt dabei Assoziationen an römische Ruinen oder ägyptische Pyramiden und tatsächlich ließ sich Kahn immer wieder von den großen Bauten der Architekturgeschichte inspirieren, die er auf seinen Reisen nach Italien, Griechenland und Ägypten in den 1950er-Jahren besichtigen konnte. Dort fertigte er unter anderem Zeichnungen der Ruinen von Ostia, Delphi, Karnak oder des Forum Romanum an. Trotz dieser Suche nach der Urform integrierte Kahn auch moderne Elemente in seine Architektur, was sich vor allem in der Konstruktion seiner Gebäude zeigt. Eine Nähe zur architektonischen Strömung des Strukturalismus wird besonders in einem seiner späten Werke deutlich, dem Fabrikgebäude für den Büromaschinenhersteller Olivetti, für das Kahn ein Tragwerk aus orthogonal aneinandergereihten Betonschirmen entwarf.
Ein früher Einfluss war sein Lehrer Paul Philippe Cret, der ihn an der University of Pennsylvania in Philadelphia unterrichtete und in dessen Büro er eine Zeit lang arbeitete. Cret, ein Architekt, der in der Tradition der Pariser École des Beaux-Arts stand, gab deren Ansätze an seine Schüler weiter und prägte auch Kahn, der in der Folge Themen wie Monumentalität und Symmetrie oder das Arbeiten mit Licht und Schatten in sein eigenes Schaffen aufnahm. Ein Beispiel dafür ist das 1972 fertig gestellte Kimbell Art Museum im texanischen Fort Worth, wo er ein symmetrisches, aus drei Teilen bestehendes Gebäude mit einem eingeschnittenen und mittig platzierten Eingangsbereich entwarf. In seiner Längsrichtung setzt sich das Museum aus additiv aneinandergereihten länglichen Betonvolumen zusammen, die jeweils von einem Tonnendach gekrönt werden und entweder als umbauter Raum oder als Vordach dienen. Dazwischen fügte Kahn Innenhöfe ein, die zusammen mit den Vordächern kunstvolle Übergänge zwischen Innen und Außen erzeugen. Im Ausstellungsbereich werden die einzelnen Tonnendächer von einem schlitzförmigen Oberlicht gekrönt. Das einströmende Tageslicht fällt über perforierte Aluminiumreflektoren unterhalb der Decke auf die Betonoberflächen der Tonnendächer und erzeugt ein weiches Leuchten.
Überhaupt war das Zusammenspiel von Tageslicht und architektonischem Raum ein zentrales Thema des Architekten. Kahn selbst sagte dazu: "Architektur tritt zum ersten Mal in Erscheinung, wenn das Sonnenlicht auf eine Mauer trifft". Dabei unterschied er zwischen dienenden und bedienten Bereichen, die ein strukturelles Abbild der mit dem Gebäude verknüpften Funktionen sein sollten. Ein Beispiel dafür ist die Phillips Exeter Academy Library in New Hampshire aus dem Jahr 1972. Dort bildet ein Atrium mit Oberlicht das zentrale Herzstück des quadratischen Gebäudes, bei dem es sich um die größte Schulbibliothek der Welt handelt. Die Erschließung ist in den vier diagonal aufgelösten Ecken platziert. Als Haupterschliessung dient eine zweiläufige, barock anmutende Treppe, die das Erdgeschoss mit dem Atrium im ersten Obergeschoss verbindet. Während die Lese- und Arbeitsbereiche an der Fassade angeordnet sind und dadurch Tageslicht erhalten, schichten sich die 250.000 Bücher umfassenden Regale als dienender Bereich in der Mitte auf allen vier Seiten um das Atrium. Von oben fällt gedämpftes Licht auf das umschließende Betontragwerk. Dessen große, kreisförmige Öffnungen stellen eine visuelle Verbindung zwischen den Bücherregalen und dem Atrium her und inszenieren die Bibliothek als monumentalen Wissensspeicher.
Kahns vielleicht schönstes Gebäude ist das bereits erwähnte Salk Institute for Biological Studies, das er für Jonathan Salk entwarf, der den Impfstoff gegen Polio entwickelt hatte. Salk wünschte sich ein Institutsgebäude, das Kahn im Verlaufe des Entwurfsprozesses in ein kunstvolles Gesamtensemble verwandelte. Das dafür vorgesehene Grundstück auf dem Universitätsgelände von San Diego im Villenvorort La Jolla bot mit seiner Lage an der Steilküste des Pazifischen Ozeans die idealen Rahmenbedingen. Dementsprechend spielten der Blick auf das Wasser und die Weite des Horizonts beim Entwurf und besonders bei der Gestaltung des zentralen Platzes eine wichtige Rolle. Er wird von zwei Gebäudeflügeln gerahmt, in denen die Forschungslabore und individuellen Arbeitszimmer der Forscher untergebracht sind. Beide sind über Loggias miteinander verbunden, die auf den Pazifischen Ozean ausgerichtet sind und den Forschern ein informelles Aufeinandertreffen mit anderen Kollegen ermöglichen. Das zentrale Element der Anlage ist eine Wasserrinne in der Mitte des Platzes, die auf den Ozean zuläuft und mit dem Horizont verschmilzt. Ein passenderes Symbol für die Ewigkeit lässt sich kaum finden. Die Idee dazu stammte allerdings nicht von Kahn, sondern von einem anderen großen Einzelgänger, dem mexikanischen Architekten Luis Barragán, den er zuvor um seinen Rat gebeten hatte. Und so zeigt sich, dass Großes manchmal nur zusammen entstehen kann. Das könnte auch ein Mantra für 2021 sein.