Büro 2010, das bedeutet: Der gutgelaunt seinen Dienst an der Wissensgesellschaft leistende Arbeitsnomade zirkuliert und kommuniziert frei und kann bei Bedarf zur Erfrischung ins sichere Nest schlüpfen. Zumindest wird uns das versprochen. Termindruck? Ist doch nur eine nette Herausforderung! Oder ist das Nest als Geborgenheitssphäre doch nur das Trostpflaster des umherirrenden und dauergestressten Büronomaden, sprich: die Kompensation dafür, dass keiner mehr für sich und vor allem seinem individuellen Rhythmus gemäß Arbeiten darf? Aber sei's drum. Heute teilt man seine Inspirationen, streift sich die Medienhaut über und schafft eine Kommune, die in ihren Uterushöhlen nicht nur Schutz verspricht gegen die Eiseskälte des Superkapitalismus, sondern auch noch ihre besten Ideen generiert. Aber lassen wir das. Wir sind schließlich auf einer Messe. Da wird man doch nicht an so was denken.
Hochsitze
Soviel aber ist klar: Das ganz und gar zeitgenössische Office erweist sich als eine Mischung aus einem offenen Raum, in dem ein jeder zu nomadisieren und sich seinen Platz zu suchen hat, samt einiger Rückzugsbereiche, in denen er allein sein oder in einer Kleingruppe konferieren kann. Permanent online muss heute jeder sein; daran lässt sich nichts ändern. Mittlerweile lassen sich auch Tische nach Belieben hochfahren und in Steharbeitsplätze verwandeln, auch wenn ich nie verstehen werde, weshalb man auf einem Barhocker besser sitzen soll als auf einer weniger in die Höhe geschraubten Sitzgelegenheit. Aber vielleicht liegt das ja daran, dass man dann eher das (Körper)-Gefühl hat, nicht zu arbeiten, sondern zu chillen. Zumindest könnte es etwas mit der Proxemik, also dem Raumverhalten als einem Teil der nonverbalen Kommunikation, zu tun haben. Sitzen wir hoch, fühlen wir uns überlegen. Vielleicht liegt ja hier das Problem. Seit Hierarchien - angeblich - abgeschafft oder wenigsten abgeflacht wurden, möchte jeder etwas erhöht werden. Im Kern aber geht es darum, Anschluss und Abkopplung, Vernetzung und Isolation in einen Balance zu bringen beziehungsweise Bedingungen dafür zu schaffen, dass jeder temporär zwischen einer mehr oder weniger öffentlichen und einer mehr oder weniger privaten Sphäre wählen und zwischen beiden pendeln kann. Klar ist dabei: Wirkliche Ruhe und Aufenthalt ist nirgends.
Das Büro als Lebensform
Bene etwa bietet, weit weniger dem Prinzip Collage verpflichtet, mit „Parcs" gleich eine ganze Palette von abschirmenden Sesseln, kleinen Pavillons, Neugierden und Raumlayouts an, bunt, aber nicht schrill in den Stofffarben und somit aufs Angenehme bedacht. Auch hier unterscheidet man zwischen Interaction und Privacy sowie zwischen Arbeitsplatz-, Kommunikations-, Konzentrations- und Supportbereichen.
Was Tom Lloyd und Luke Pearson als multifunktionale Arbeitslandschaften entworfen haben, wirkt abwechslungsreich und doch wie aus einem Guss und man darf gespannt sein, wie dieses Büro als Lebensform, stilistisch kräftig angehaucht vom Geist der Sixties, angenommen wird. Die aus drei Kreissegmenten bestehenden hohen Sessel jedenfalls wirken wie eine hybride Mischung aus biomorphem Ohrensessel, Strandkorb und technikfreiem Kommandostand.
Insulare Zauberkreise
Weniger als komplettes System aus verschiedensten Komponenten denn als Einzelstück finden sich viele solcher Kokonsessel. Der Hang zum insularen Zauberkreis inmitten eines tosenden Ozeans vernetzter Kommunikation ist unübersehbar, ob bei Blå Station als Sofa und Sessel, bei Montis mit „Scene XXL" von Gijs Papavoine als abgesteppter Kelch mit farblich abgesetztem Sitz oder bei Palau als veritabler Strandkorb mit Ecken und Kanten. Neben dem „Alcove Highback" der Bouroullecs, ich habe es bereits erwähnt, war es der monumentale „EarChair" von Studio Makkink & Bey für Prooff, der Offenheit und Abkapselung verbunden hat, was sich nun auch in dessen Zweifarbigkeit ausdrückt. Prooff bietet, unter der Nummer 004 mit „Niche" zudem ein allseits hochgeschlossenes Sofa mit Baldachin an, das, in zwei Exemplaren gegeneinander platziert, ebenfalls einen angenehmen Raum-im-Raum bildet. Man sieht, der Hang zur Nischen- oder Höhlenbildung ist unverkennbar.
Kombination ist alles
Ebenfalls nicht ganz neu, aber dem Bedürfnis nach Flexibilität und Bequemlichkeit entsprechend, finden sich nun auch wieder verstärkt Kombinationselemente, die sich mehr oder weniger frei zu ganzen Sitzschlangen oder -landschaften verbinden lassen. Arco bietet, neben dem wunderbar schlichten und mittels magnetischer Accessoires ergänzbaren „slim office" von Bertjan Pot mit „side by side" von Karel Boonzaaijer und Dick Spierenburg eine ebenso elegante wie am Ende konventionelle Lösung aus geraden Teilen und Eckelementen an.
Weitaus konsequenter denkt Uwe Fischer die flexible Gestaltung großer offener Räume weiter. Mit „Affair" hat er für Cor - aus den mal geraden, mal geschwungenen Elementen Hocker und Rücken sowie einem Anbautisch - ein hochflexibles System entworfen, das Flexibilität nicht nur behauptet. Verbunden mit Magneten, lassen sich die einzelnen Komponenten tatsächlich ohne Werkzeug spielend leicht zu immer neuen Kombinationen verbinden. An der Vorder- und Hinterkante leicht abgeschrägt und durch eine zweifarbige Polsterung akzentuiert, verströmt „Affair" zudem eine besondere Eleganz. Mit „Scope" hat Uwe Fischer - ebenfalls für Cor - aus zwei Einzelelementen ein weiteres, nicht weniger gut durchdachtes modulares Sitzmöbelprogramm entwickelt, das es - mit oder ohne Aufsatz - ebenfalls ermöglicht, kleine Arbeitsinseln oder weitläufige Raum-im-Raum-Lösungen zu schaffen. Auch hier sind es die Details, die den Unterschied machen.
Plattformstrategien
Zu jedem Büro gehören Bürostühle. Es gibt sie mittlerweile in allen möglichen Formen und Ausführungen. Dabei, man hat sich längst daran gewöhnt, sind die meisten Exemplare schon seit langem eigentlich keine Stühle mehr. Womit wir es in immer neuen Ausprägungen zu tun haben, sind ergonomische Sitzmaschinen, die nichts anderes zu verkünden scheinen als: Du sollst nicht stillsitzen. Sitzen, so die Botschaft, ist ungesund; allein Bewegung zählt. Was dazu geführt hat, dass Zappelphilipp von Medizinern und Ergonomen zum Leitbild erhoben wurde und fast jeder Bürostuhl zum Kippen, Neigen und Beckenkreisen neigt und anregt. Die Botschaft bleibt paradox: Wenn Du, lieber Mitarbeiter, schon unbedingt sitzen musst, dann sitzt wenigstens nicht still. Wen wundert es da noch, wenn die an ihren Workstations angedockten und auf ihre Bildschirme fixierten Gehirne nun wippen und ihre Wirbelsäule hier unterstützt und dort bewegt wird. Mit „Sayl" setzt etwa Hermann Miller seinen biomorph-konstruktiv überspannten Weg fort.
Weitaus spannender zu verfolgen ist eine andere Entwicklung. Denn wenn Vitra mit dem „UnixChair" von Antonio Citterio nicht einen Stuhl in verschiedenen Ausführungen, sondern eine Art „Allrounder" präsentiert, so bedeutet das am Ende den Einstieg in ein Verfahren, das man aus der Autoindustrie kennt: die Plattformstrategie. Was, man kennt das, nicht bedeutet, das nun alle Modelle die gleiche „Bodengruppe", also den gleiche Fuß haben, sondern dass, bei veränderter Form und Funktion, immer häufiger gleiche Bauteile verwendet werden. Der Stuhl als Baukasten, das Thema wird uns in den kommenden Jahren sicher noch beschäftigen.
Ebenfalls von den Produktionsmethoden der Autoindustrie inspiriert ist „Chassis" von Stefan Diez, der nun, nach langer Entwicklungszeit, bei Wilkhahn endlich in Produktion geht. „Chassis" ist mehr als ein Bürostuhl, und er hat auch in seiner endgültigen Gestalt nichts von seiner technischen Eleganz eingebüßt. Auch wenn es schade ist, dass er noch nicht mit einem Sitz aus in Form gepresstem Leder zu haben ist, dafür aber in feinem weißen, schwarzen und grauen Lack. Allein die Büro-Cowboys werden traurig sein.
Der besondere Tisch
Bei aller Demokratisierung des Büros bleibt ein Rest an imperialem Gehabe. Es manifestiert sich in dem Tisch, an dem Entscheidungen fallen. Wobei dieser, je nach Designer und Unternehmenskultur, ganz unterschiedlich ausfallen kann. Gediegen, skulptural, klassisch-elegant und wertstabil bei Hadi Teherani und seinem „S 8000" für Thonet, sachlich, minimalistisch-kühl und antihierarchisch als Teamcenter mit verschließbarem Stauraum bei Naoto Fukasawa und seinem „Kuubo" für Vitra, schließlich extravagant, egomanisch, neo-avantgardistisch und manieristisch als „SitTable" von Ben van Berkel und UNStudio für Prooff. Wir aber wissen: Die nächste Bürogeneration kommt bestimmt. Schließlich ist das Büro ebenso ein Provisorium wie die Gesellschaft, die es hervorbringt.