Die Revolutionärin
Weiße, silberne und schwarze Linien von unterschiedlicher Länge, die sich abstrakt über einen beigen Hintergrund schlängeln, in alle Richtungen zeigend, um dann plötzlich zu enden. "Six Prayers" hat ihre Schöpferin Annelise Fleischmann (1899-1994), die nach der Hochzeit mit Josef Albers den Nachnamen ihres Mannes annahm, das Werk genannt. Das Chaos der Linien, ihre hektisch wirkenden Verläufe und abrupten Enden referiert auf den nationalsozialistischen Völkermord und die ausweglose Situation der millionenfachen Opfer – ein Holocaust-Mahnmal in sechs Stoffbahnen. Das handgewebte Werk aus Baumwolle, Leinen, Bast und Metallgarn ist Teil der aktuellen Einzelausstellung "Anni Albers", die das K20 in Düsseldorf zeigt. Die erste Retrospektive zum Werk der Künstlerin seit gut zwei Jahrzehnten ist in mehrerlei Hinsicht ein Ereignis: Das fast zwei Meter mal drei Meter große Bildgewebe "Six Prayers" ist äußerst empfindlich und kann somit nur sehr selten präsentiert werden. Es zählt zu den Hauptwerken von Albers, die 1922 zur Bauhaus-Schule nach Weimar kam um ihre künstlerische Ausbildung fortzusetzen. Diese zeigte sich im puncto Genderpolitik leider wenig fortschrittlich, trotz der seitens ihres Direktors Walter Gropius nach außen kommunizierten Gleichstellung der Geschlechter. Im Gegensatz zu den männlichen Studenten war es Frauen nicht möglich ihre Fächer frei zu wählen – nur die Textilklasse stand ihnen offen. Albers, die eigentlich Malerin werden wollte, blieb die gewünschte Arbeit an der Leinwand verwehrt.
Anni Albers musste sich den Zwängen ihrer Zeit fügen, schaffte es aber in Folge ihre künstlerische Begabung mit dem Handwerk des Webens auf einzigartige Weise zu verbinden. Geleitet von dem Bestreben ihre Arbeit als Kunst verstanden zu wissen, ließ sie sich von den Werken Paul Klees und Wassily Kandinskys inspirieren und begann mit Texturen, Farben und Oberflächenqualitäten zu experimentieren. Die Vielseitigkeit des Materials wurde für sie zur Chance, das traditionelle Handwerk des Webens in die Moderne zu führen. Ihre textilen Werke konnten nicht mehr länger in die Kategorien der Dekoration oder des funktionellen Gewebes eingeordnet werden. Mit ihren Webbildern, den sogenannten "Pictorial Weavings" perfektionierte sie das Handwerk und entwickelte eine Form der Abstraktion, die keinen Nutzen brauchte um einen Sinn zu schaffen und neue Sichtweisen gleichermaßen förderte wie forderte.
Anhand von gut 300 Arbeiten bietet die Ausstellung im K20 einen umfassenden Überblick über das Werk von Anni Albers. In diesem Zuge gewährt sie auch Einsicht in die zweite Schaffensphase der Künstlerin, in der sie sich auf die Drucktechnik konzentrierte und über diese Kunstform endlich die Anerkennung erfuhr, die ihr zu Lebzeiten für ihre Webarbeiten zumeist verwehrt blieb.
Annie Albers
K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
Grabbeplatz 5
40213 Düsseldorf
Öffnungszeiten:
Dienstag bis Freitag 10 Uhr bis 18 Uhr
Samstag, Sonntag, Feiertag 11 bis 18 Uhr
Bis 9. September 2018