Blickpunkt: Architektinnen – Anna Heringer
Zu den vielen Auszeichnungen, welche die deutsche Architektin Anna Heringer für ihre Arbeit bereits bekommen hat, ist nun eine weitere hinzugekommen. Am 30. September 2022 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Für ArchitektInnen ist das eine recht ungewöhnliche Auszeichnung. Und auch unter den anderen 19 an diesem Tage Ausgezeichneten war kein weitere/r ArchitektIn – Heringer hatte sich wieder einmal, wie schon oft in ihrem Berufsleben, eine Sonderrolle verdient. Seit Beginn ihrer Laufbahn hat sie sich nicht nur dem nachhaltigen Bauen verschrieben, sondern widmet sich dabei speziell der jahrhundertealten Tradition des Lehmbaus. Zudem baut sie ihre Projekte gerne im Dialog und unter tatkräftiger, bauender Mithilfe ihrer KundInnen. Heute gilt sie im Bereich des sozial und klimagerechten Bauens als international anerkannte Expertin.
Angefangen hat ihre Vita im oberbayrischen Laufen, nahe der österreichischen Grenze, wo Heringer aufwuchs. In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sagte Heringer einmal, der Kreislaufgedanke sei in ihrem Elternhaus immer präsent gewesen. Ihr Vater Josef Heringer war Landschaftsarchitekt und Ökologe, der schon früh von den Ideen eines nachhaltigeren, genügsameren Wirtschaftens und von einem schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen überzeugt war. Die Kreislaufgedanken gingen mit dem Vater zwar etwas durch, wenn er den Gästen begeistert erzählte, dass das Essen im eigenen Garten gewachsen sei, wo früher ein Friedhof lag, sodass die Lebensmittel sich von den Überresten der Laufener genährt hätten – ihrem Engagement für die Nachhaltigkeit hat das allerdings nicht geschadet.
Nach der Schule ging Anna Heringer für ein Jahr nach Bangladesch und arbeitete dort für die Nichtregierungsorganisation Dipshikha, die sich vor allem um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Land kümmert. Heringer kam nach Rudrapur, ein kleines Dorf im Norden Bangladeschs, und lernte die einfachen Lehmbauten kennen. Zurück in Deutschland begann sie ihr Architekturstudium in Linz, wo Lehm keine Rolle spielte. Unmittelbar vor dem Diplom, sagt Heringer, habe sie eine "Vordiploms-Depression" bekommen. Wo sollte sie ihre Rolle in der zeitgenössischen Architektur finden? Die Antwort brachte ein Workshop bei dem österreichischen Lehmbauexperten Martin Rauch, der, knapp 20 Jahre älter als Heringer, über seine Arbeit als Töpfer und Bildhauer sowie durch mehrjährige Aufenthalte in Afrika zum Lehmbau gekommen war. Rauch hatte erst Kachelöfen konstruiert, dann stampflehmwände und schließlich mit seinem eigenen "Haus Rauch" in Schlins bewiesen, dass Stampflehm ein höchst aktuelles Material sein kann. Bei Heringer machte es Klick und die Vordiploms-Depression war weg.
Für ihr Diplom entwarf sie in Zusammenarbeit mit der NGO einen zweigeschossigen Schulbau aus Bambus, Stroh und Lehm für das Dorf Rudrapur. Sie sammelte 35.000 Euro an Spenden, um die Schule zu bauen. Die Bauweise der "METI Handmade School" gründet im Wesentlichen auf alten, einheimischen Handwerkstraditionen und lokal verfügbaren Materialien. Gleichzeitig entwickelte Heringer gemeinsam mit ihrem Kollegen Eike Roswag etliche Verbesserungen an den traditionellen Verfahren, zum Beispiel setzten sie die Lehmwände auf ein kleines Fundament aus Ziegeln und verbesserten die Bambusverbindungen, sodass die Schule ein zweites Stockwerk bekommen konnte. Der Bau ist nicht nur ökologisch vorbildlich, da vollständig rezyklierbar und hervorragend auf die Klimabedingungen in Rudarapur reagierend, sondern wurde auch gemeinsam mit lokalen HandwerkerInnen sowie den SchülerInnen und LehrerInnen der Schule selbst errichtet. 2007 wurde das Projekt mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet, einer der weltweit wichtigsten Preise für sozial und ökologisch ambitionierte Architektur.
Eine der wichtigsten Lektionen, die sie in Bangladesch gelernt hat, sei es, mit den Menschen, Materialien und Technologien vor Ort zu arbeiten. Alles andere führe nur in die Abhängigkeit von den Systemen anderer. Für die Architektur bedeutet dies ein reduziertes, einfaches Bauen, wie es über Jahrhunderte auch in Europa selbstverständlich war. Heringer, Rauch und Roswag gehören heute alle drei zu den ProtagonistInnen einer Neuen Einfachheit in der Architektur, die sich an alte Techniken und Materialien wie Holz, Lehm, Ziegel oder Stroh erinnert und Beton nur noch selten verwendet. "Architektur ist ein Werkzeug, um das Leben besser zu machen", wiederholt Heringer gerne als ihren Leitsatz. Daran müsse sich jedes Gebäude, jeder Eingriff in die Umgebung messen lassen.
Mit ihrem speziellen Interesse am Lehmbau hatte es Heringer allerdings schwer, in Europa Fuß zu fassen. Obwohl sie ihr eigenes Büro schon 2005 gründete, startete sie erst in den letzten Jahren mit Projekten in Deutschland. Dem Lehmbau haftete hierzulande viel zu lange der Ruf des Altbackenen an, einer rückständigen, ärmlichen Bautechnik. Stattdessen plante Heringer vom heimischen Laufen aus eine Berufsschule in Bangladesch, einen Kindergarten in Zimbabwe, ein Bambushostel in China, einen Universitäts-Campus in Indien, ein Lernzentrum in Marokko und eines in Ghana. Ihre Arbeitsweise ist dabei zeitaufwändig, da sie immer erst eine gemeinsame Arbeitsweise mit den lokalen Gemeinschaften entwickeln muss.
In dieser Zeit kam der Lehmbau auf dem Rücken der Nachhaltigkeitswelle schleichend auch in die europäische Architektur. Langsam besinnt man sich daran, dass es auch in Europa eine jahrhundertealte Tradition von Lehmbauten gibt oder zumindest von Gebäuden, die in bestimmten Teilen mit Lehm gebaut werden. Selbst StararchitektInnen wie die Schweizer Herzog & de Meuron bauen repräsentative Geschäftshäuser und Fabriken für namhafte KundInnen aus Stampflehm – und lassen sich dabei übrigens meist von Martin Rauch beraten. Ebenso hat das Unternehmen Alnatura ihre Zentrale in Darmstadt für 500 Arbeitsplätze als dreigeschossigen, hochmodernen Bürobau mit vorfabrizierten Stampflehmwänden errichten lassen.
Anna Heringer entwarf derweil im Wormser Dom mit Martin Rauch einen neuen Altar aus Stampflehm – und lud die Gemeinde ein zum Selber-Stampfen. "Früher sind die Gemeinden zusammen gekommen, um ihre Kathedralen, Moscheen oder Schulen selbst zu bauen", sagt Heringer. Es ist eigentlich ganz einfach: Ein gemeinsamer Bauprozess stärkt auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gemeinschaft, in Rudrapur genauso wie in Worms. Dieser Glaube an das Gemeinschaftserlebnis ist bei Heringer wieder etwas, das bis in ihre Kindheit und Jugend zurückzuverfolgen ist: Da engagierte sie sich in einer Pfadfinder-Organisation, organisierte gemeinsame Zeltlager, wo das gesamte Lager vor Ort selbst entwickelt und umgesetzt werden musste – von den Zelten über den Feuer- und Versammlungsplatz bis zur Toilette. Und alles so, dass es nachher rückstandlos wieder abgebaut werden kann. Im Grunde baut Heringer heute genau wie damals – nur sind ihre Techniken inzwischen deutlich ausgereifter.
In Rosenheim hat sie gerade das Gästehaus für ein ayurvedisches Gesundheitszentrum fertig gestellt, ein Bau aus Lehm, Holz und geflochtenen Weide-Ästen. Beton und Stahl sind auf das notwendige Minimum vor allem in den Fundamenten reduziert. Aktuell arbeitet sie an ihrem bislang größten Projekt, der Campus-Erweiterung des kirchlichen Studienseminars St. Michael in Traunstein. Hier hat sie zwei neue Häuser entworfen, ein Wohnhaus für die Internatsschüler aus Holz sowie ein Seminar- und Veranstaltungshaus als eines der ersten selbsttragenden Stampflehmgebäude in Europa. Es wird eine Bewährungsprobe für das Material und die Architektin, die im deutschen Bauvorschriftendschungel nicht so viel auf Selbstbau und Partizipation setzen kann, wie sie es eigentlich gerne würde. Dass sich auch in Traunstein die SchülerInnen, die HandwerkerInnen, die Architektin, der Campus-Direktor und alle Interessierten und NachbarInnen auf der Lehmbaustelle zum gemeinsamen Arbeiten treffen würden, ist eine schöne Vorstellung. Vielleicht fällt Heringer noch etwas ein, wie sie auch das möglich machen kann.
Upscaling Earth: Material, Process, Catalyst
Anna Heringer, Lindsay Blair Howe, Martin Rauch
158 Seiten
gta Verlag, 2022, Zürich
ISBN: 978-3-85676-393-0
30 Euro