Der sogenannte „Eiermann-Bau“ passt einfach nicht. Er passt nicht zur Kleinstadt Apolda am nordöstlichen Rande Thüringens, die geprägt ist von kleinen klassizistischen Villen, einigen größeren Gebäuden aus Backstein und den Nachkriegsplattenbauten in den Hügeln ringsum. Einst ein Zentrum der Textil- und Glockengießindustrie, hat der Bevölkerungsrückgang Apolda schon seit der Weltwirtschaftskrise im Griff, und selbst die räumliche Nähe zu Weimar und Jena haben die Stadt bislang gerade für jungen Menschen nicht attraktiver gemacht. Der Eiermann-Bau passt auch nicht zu seiner unmittelbaren Umgebung, die vor allem aus Schrebergärten und überwucherten Brachen besteht. Die ehemalige Fabrik scheint aus völlig anderen, moderneren und zukunftsoptimistischeren Zeiten zu stammen – was wiederum nicht zum Jahr seiner Fertigstellung passt: 1939. Wie ein schlankes, hohes und freundliches Schiff, das sich an Land verirrt hat, steht der schon mehr als 20 Jahre lang viel zu leere, lange Riegel an der Auenstraße. Als wäre hier sein Ankerplatz und als würde er nur auf einen neuen Besitzer warten, der endlich wieder die Segel hisst und mit dem ganzen Haus zu neuen Abenteuern aufbricht.
Seiner Zeit voraus
Tatsächlich war dieses Haus schon lange bevor Egon Eiermann ins Spiel kam ein hochmodernes Fabrikgebäude. Für die neue, mechanische Weberei der ortsansässigen Textilfirma von Hermann Borgmann entwarf der ortsansässige Architekt Hermann Schneider 1906-07 ein erstaunlich progressives Gebäude: ein heller Stahlbetonskelettbau mit offenen Grundrissen und dreieinhalb Geschossen. Um die auffälligen, unverputzten Stahlbeton-Lisenen in der Fassade noch weiter zu betonen, setzte der Architekt die Ausfachungsfelder aus dunklem, rotem Klinker zwischen diesen etwas zurück. Zusammen mit den hohen, die Vertikale betonenden Fenstern ergab sich ein pragmatisches und robustes Äußeres, über das ein ständiges Spiel aus Licht, Schatten und den Reflektionen in den Glasscheiben zog. Im Inneren lagen helle, stabile Räumen mit flexiblen Grundrissen, die nur durch die Position der Treppenhäuser und Funktionskerne gegliedert wurden. Das ganze Gebäude war eindeutig ein uneitles Arbeitswerkzeug: solide, robust und jederzeit umbau- oder erweiterbar. In der konsequenten Sichtbarmachung seiner Konstruktionsmaterialien und der statischen Kraftverläufe wies der Bau schon weit über den Funktionalismus seiner Zeit hinaus, der passende Begriff des „Brutalismus“ sollte jedoch erst gut 50 Jahre später gefunden werden.
Die Weberei florierte und an die neun Achsen wurden 1919 zwei weitere angefügt, aus pragmatischen Gründen zwar etwas höher als die vorhandenen, dafür aber wurden das Raster und die charakteristische Fassade fortgeführt. Dann kam die Weltwirtschaftskrise und davon sollte sich die Firma Borgmann & Co nicht mehr erholen. Im Jahr 1936 wurde das gesamte Gelände endgültig aufgegeben. Mit gewissen Versprechungen und Erleichterungen konnte die Stadt stattdessen den Feuerlöschgerätehersteller Total gewinnen, aus Berlin nach Apolda zu ziehen. Bis zum Kriegsende wurden hier Löschapparate und -systeme sowie paradoxerweise Flammenwerfer für die Wehrmacht hergestellt. Mit der für all das nötigen Erweiterung wurde 1938 der gerade 34 Jahre junge und noch weitgehend unbekannte Egon Eiermann direkt beauftragt.
Weiterbauen
Mit offensichtlichem Respekt vor dem Bestandsgebäude entwickelte Eiermann seinen Anbau aus dessen konstruktiven und ästhetischen Prinzipien. Auf eine nachträgliche Symmetrie kommt es ihm dabei ganz offensichtlich nicht an, denn er beginnt seinen Umbau in den beiden später angefügten Achsen, belässt diese aber, tauscht lediglich die Fensterfelder der oberen drei Etagen aus und „leert“ die Innenräume. Dieses System setzt er dann in acht weiteren, neu gebauten Achsen fort, wobei er Gebäudetiefe, Achsmaß und Etagenhöhe exakt übernimmt. Statt der vorgegebenen Klinkerfelder setzt er große, moderne Stahlrahmenfenster ein, deren feine Profile er innen hellblau streichen lässt. So blieben beide Teile der Fabrik, der in seiner Gestalt weitgehend unverändert belassene Alt- und der hinzugefügte Neubau, in ihren Eigenarten deutlich unterscheidbar, bildeten aber vor allem in der Fortführung des Stahlbetonrasters eine Einheit; wie ein Regalsystem, in das zur Hälfte neue Schubladen eingesetzt wurden.
Überraschung im 3. OG
Im Inneren hält sich Eiermann drei Etagen lang deutlich zurück: Die Grundrisse sind so offen wie im Altbau, wirken durch die nun größeren Fenster allerdings deutlich heller und transparenter – ein faszinierender Effekt, weil man sich wundert, ob die Räume nicht doch ein bisschen größer oder höher sind. Im vierten Obergeschoss allerdings gibt es eine Überraschung, die aus diesem Gebäude einen einmaligen Bestandteil des deutschen Industriebaus und ganz sicher ein Denkmal macht. Hier fügte Eiermann eine großzügige, lichtdurchflutete Kantine ein, deren Speisesaal in der Deckenkonstruktion vom Rest des Gebäudes so drastisch abweicht, dass er ganz ohne Stützen auskommt. Mit den großen Fenstern, dem weiten Blick und einem überraschenden Boden aus kleinen, hellblauen Mosaikfliesen, in die in der Raummitte ein Holzparkett wie eine kostbare Intarsie eingefügt wurde, erinnert dieser Raum mehr an den Tanzsaal eines Kreuzfahrtschiffes als an die Betriebskantine eines Fabrikgebäudes.
Die maritimen Assoziationen fortführend, steht neben der Essensausgabe mit ihrer fein gegliederten Funktionswand aus Glas und Stahl eine freistehende, schlanke Treppe, deren Geländer aus dünnen, weiß gestrichenen Stahlrohren über drei Treppenläufe leicht a-rhythmisch durch den Raum hinauf auf eine grandiose Dachterrasse führt, die hier ebenso wenig hinzugehören scheint wie das gesamte Gebäude. Die „Reling“ besteht aus denselben feinen, weißen Metallgeländern und verbindet sich mit langen Rohren direkt mit dem eleganten Flugdach. Entlang der Dachkante wurden Pflanzenkübel in die Reling integriert, aus denen Kletterpflanzen hinauf bis zum Flugdach wachsen und angenehmen Schatten spenden sollten – als wäre dies ein Sanatorium in einer besonders warmen Weltgegend. Die Abluft aus der Kantine wird hingegen durch einen viel zu großen, ovalen Schacht geführt, dessen vernietete Blechummantelung ebenfalls weiß gestrichen ist und keinen Zweifel daran lässt, als Schiffsschornstein verstanden zu werden. Am Bug der Terrasse steht obendrein ein Fahnenmast. War das alles noch ernst gemeint? Die Weberei des 19. Jahrhunderts hatte Eiermann in ein Kreuzfahrtschiff verwandelt, die Arbeiter waren – zumindest in ihren Pausen – zu Passagiere einer Fahrt durch die grünen Gärten Apoldas geworden.
Seine unübersehbare dynamische Spannung dieses Gebäude entsteht durch eine lässige Verbindung aus den Vorgaben des Alten und den radikal umgesetzten Ideen des Neuen. Eiermanns Methodik eines interpretierenden Weiterbauens brach ja vor allem mit jenen Ideen einer frühen Moderne, die mit dem Althergebrachten und dem historisch Gewachsenen aufräumen wollten.
Denkmalschutz, dann Leere
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs endeten jäh alle Bautätigkeiten auf dem Gelände, obwohl Eiermann noch weitere Gebäude projektiert hatte. Nach 1946 wurde der Betrieb als VEB Feuerlöschgerätewerk Apolda weitergeführt, und irgendwann wurde auf dem Flugdach auch die stolz geschwungene Leuchtschrift „Feuerlöschgerätewerk“ installiert, die heute noch zu sehen ist. Schon die Denkmalpflege der DDR hatte das Gebäude 1980 unter Schutz gestellt; 1992 folgte der gesamtdeutsche Denkmalschutz. Die Produktion wurde jedoch 1994 eingestellt. Alle Versuche der Treuhand und der jetzigen Besitzerin, der Gesellschaft zur Sanierung und Entwicklung von Altstandorten (GESA), einen neuen, dauerhaften Nutzer zu finden, blieben erfolglos. Obwohl die „Braut“ immer mal wieder hübsch gemacht wurde: 2004/2005 wurden Garagen und Anbauten auf dem Gelände abgerissen und 2010-2012 wurde das leerstehende Fabrikgebäude umfangreich und denkmalgerecht saniert: die Außenanlagen hergerichtet, die fehlenden Originalfenster, ursprünglichen Eingänge und Beleuchtungskörper wieder eingesetzt. Ein neuer Nutzer hat sich dennoch nicht eingefunden.
So steht heute im Grün Apoldas ein stolzes Schiff, so schlank, schön und leer wie nie zuvor. Immerhin gibt es Hoffnung. Ein engagierter, privater Freundeskreis kümmert sich seit 1999 um das Gebäude, organisiert Veranstaltungen und gelegentliche Ausstellungen. Man könnte auch sagen, er hält die Glut im Ofen am Glimmen. 2014 wurde der Eiermann-Bau ins Programm der IBA Thüringen aufgenommen, die im Sommer 2016 als ersten Schritt einer Reaktivierung vor Ort gemeinsam mit der Wüstenrot Stiftung einen zweiwöchigen Studentenworkshop durchgeführt hat. Dessen Teilnehmer durften auf den offenen Etagen campieren und richteten flugs eine Pingpong-Bar im Erdgeschoss ein, wo sie mit internationalen Gästen über künftige Nutzungsszenarien für den Bau diskutierten. So konnte man in Apolda eine Ahnung davon bekommen, was junge Leute mit einem solchen Gebäude machen würden. Gleichzeitig wurde aber auch klar, dass das Hauptproblem dieses atemberaubend schönen Gebäudes seine Lage in Apolda sein dürfte; in Leipzig, Berlin oder Dresden wäre es längst von ein paar Dutzend Jungkreativen besiedelt worden. In Apolda hingegen bleibt der künftige Kurs der MS Eiermann bis auf Weiteres offen.
Verein der Freunde des Eiermannbaus in Apolda e.V.
IBA Thüringen
Foto Thomas Müller, 2016, © IBA Thüringen