Der Reiz der Gegensätze
Dieser Bildband ist kein Coffeetable-Book. Auch wenn sich "Berlin" von Andreas Gehrke dank aufwändiger Aufmachung und stattlichem Format natürlich bestens auf einem Mid-Century-Beistelltischchen machen würde. Doch Gehrkes Fotografien seiner Heimatstadt sind nicht die leichte Unterhaltung, die bei diesem Genre gefragt ist. Von den 102 Aufnahmen geht vielmehr eine leise Melancholie aus. Sie zeigen die Rückseiten der Stadt, vernachlässigte Orte in diffusem Licht, Leerstellen, Zwischenräume, Gebrauchsarchitektur, das abgelebte Alltagsgesicht. Und wenn doch mal eine Sehenswürdigkeit in den Blick kommt – der Fernsehturm, der Checkpoint Charlie, das Pergamonmuseum, die Baustelle des Stadtschlosses – dann wirken sie entrückt. Und nicht wie die touristischen Sehnsuchtsorte, die sie bis zur Pandemie waren. Alleine schon deshalb, weil aus Gehrkes Berlin alles Leben gewichen zu sein scheint. Kein Auto ist auf den Straßen unterwegs, und auch Menschen tauchen nur selten auf. Ein Pizzabote bei der Arbeit. Ein paar winzige Gestalten auf dem verschneiten Tempelhofer Feld, mehr ist nicht los.
Sechs Jahre hat sich Andreas Gehrke Zeit gelassen, um Berlin zu erkunden, von 2014 an war der Fotograf gezielt mit seiner Kamera unterwegs. Für das Buch hat er schließlich eine Reihe ganz unterschiedlicher Motive in Farbe und Schwarz-Weiß ausgewählt: Close-ups von Architekturdetails wechseln sich ab mit Aufnahmen von Gebäuden und ganzen Straßenzügen. Unbelaubte Bäume spielen eine gewisse Rolle, gerne lässt er sie den Blick auf ein Haus versperren. Manche Motive erkennt man als BerlinerIn sofort, andere erscheinen bekannt, ohne dass man sie einer Adresse zuordnen könnte, etwa die für Berlin so typischen ausgebombten Straßenecken, die nach dem Krieg lediglich mit behelfsmäßigen Gebäuden aufgefüllt wurden. Ein Adressindex im Anhang hilft beim Lokalisieren. Das "Berlin"-Buch ist auch als Pendant zu verstehen zu Gehrkes 2017 erschienenem Band "Brandenburg". Stadt und Land, Architektur und Landschaft: In beiden Büchern verschwimmen die scheinbar eindeutigen Grenzen. Diese hat Gehrke, auch bekannt unter dem Namen Noshe, selbst verlegt, in seinem 2013 gegründeten Verlag Drittel Books. Eine Plattform für eigene Buchprojekte und die befreundeter Künstler, welche er neben seiner Arbeit als Fotograf betreibt.
Begleitet werden Andreas Gehrkes Fotografien von einem klugen Essay des Berliner Architekturjournalisten Florian Heilmeyer. Mit seinem zweiteiligen Text "Bruchlandschaft" gibt er nicht nur einen Einblick in die Arbeitsweise des Fotografen und beleuchtet dessen Einflüsse. Heilmeyer zeichnet auch das Porträt einer Stadt, der die Geschichte übel mitgespielt hat und die durch all die Umbrüche und Zerstörungen nie zu einem harmonischen Ganzen heranwachsen konnte wie andere europäische Metropolen. "Berlin ist eine Stadt voller Brüche und widersprüchlicher Fragmente, die nicht zusammenpassen", so Heilmeyer. Diese Brüche und Leerstellen im Stadtgefüge aber, das ungebremste Aufeinanderprallen von Gegensätzlichem, macht bekanntlich für viele gerade den Reiz von Berlin aus. Andreas Gehrke lässt sich darauf ein und zeigt ihn mit ruhigem Blick, ohne zu verklären. Das letzte Foto: eine Baustelle in der Kreuzberger Prinzessinnenstraße. Denn das Buch ist auch ein Abschied von einer verschwindenden Stadt: Mancher Behelfsbau ist längst abgerissen, manche Fassade längst aufgehübscht, manche Brache längst bebaut. Wer würde da nicht ein wenig melancholisch?
Andreas Gehrke
BERLIN
192 Seiten / 102 Abbildungen
deutsch/ englisch
Drittel Books
ISBN 978-3-9818866-3-4
55 Euro