Schaftstiefel, Jacke und Hose aus festem Wollstoff, die Haut sonnengegerbt und auf den Lippen ein stolz-verschmitztes Lächeln – so steht der Mann in der schon flachstehenden Sonne vor einem reetgedeckten Holzhaus. Mit der rechten Hand umklammert er das untere Ende des hinteren Beins eines einfachen Stuhls, hält ihn waagrecht und scheinbar mühelos in die Luft.
„Hålla stol på rak arm“ – mit ausgestrecktem Arm einen Stuhl halten, so heißt die Übung, und man sieht es ihm an, dass er mit Spaß bei der Sache ist und gern seine Kraft demonstriert. Andere Übungen heißen: „Taga upp halmstrået“ – dabei muss ein Mann, die Hände auf dem Rücken, mit dem Mund ein kleines Bündel Stroh vom Boden aufheben. Oder „Lyfta med munnen halv tunna korn“, eine Übung, bei der es, ebenfalls mit dem Mund, gilt, einen halben Sack voll Korn hochzuheben. Ein anderer stemmt freudig lächelnd einen Amboss in die Höhe, einer windet sich über einen Stab, den er mit beiden Händen festhält, und wieder ein anderer versucht, auf der wie eine Mondsichel gekrümmten Schneide einer Sense stehend zu laufen.
Die Feldforschung, die er aus Helsinki stammende Ethnologe und Gymnastiklehrer Maximilian Stejskal (1906 bis 1991) im Zuge seiner Dissertation betrieben hat, darf in einer bäuerlich geprägten Gesellschaft durchaus wörtlich genommen werden. Geübt, geturnt, gespielt und gewetteifert wird mit all dem, was auch sonst bei der Arbeit zur Hand ist – von der Sense bis zum Strohsack, vom Tisch bis zum Baumstamm, von der Kaminbank bis zum Fahnenmast.
Zwischen 1929 und 1937, dann abermals 1948, radelte Stejskal jedes Jahr vier bis acht Wochen lang von Dorf zu Dorf durch Süd- und Ostfinnland und ließ sich vor Ort von schon etwas älteren Knechten, Bauern und Handwerkern vorführen, wie sie früher, als sie noch Buben und junge Männer waren, ihre Kräfte gemessen und ihrer Beweglichkeit unter Beweis gestellt hatten. Das Ganze war mehr Wettkampf als Übung, wobei solche Volkswettspiele – „Folklig Idrott“ –, wie sie die junge Landbevölkerung um 1900 praktiziert hatte, als Stejskal durchs Land radelte, kaum noch abgehalten wurden. Im Gepäck hatte der Forscher zwei faltbare Balgenkameras, Glasnegative und ein Tonbandgerät, um Musik aufzunehmen. Insgesamt 433 Fotografien hat er aufgenommen, Reiseberichte verfasst, die Übungen selbst beschrieben und die Regeln der Wettkämpfe festgehalten.
Betrachtet man die in dem Band vorgestellte Auswahl, so wirken die Schwarzweißaufnahmen auf den ersten Blick so skurril wie Stills aus Stummfilmen. Männlichkeits- und Geschicklichkeitsbeweise und Mutproben mischen sich mit Gymnastik und Volksfest, Initiationsriten, Belustigung und Sport fallen zusammen. Fingerhakeln macht ebenso Spaß wie Steine schleppen. Denn wer den schweren Brocken bis auf Kniehöhe schafft, gilt als heiratsfähig.
Neben ihrem ethnografischen und seriös-wissenschaftlichen Wert, haben die Aufnahmen freilich noch einen anderen, eher künstlerisch-ästhetischen Aspekt. Über Reenactments – auch Stejskals Aufnahmen sind nachgestellt – wird derzeit viel diskutiert, und die Herausgeber des Bandes, Marie-Isabel Vogel und Alain Rappaport, sind wohl nicht ganz zufällig in Zürich lebende Künstler und Szenografen. Auch sie dürfte mit den Fotografien ein über das Ethnografische hinausgehendes Interesse verbinden.
Wer die Volkswettspiele aus dieser Perspektive betrachtet, für den klingen in den Fotografien Reformbewegung, Handwerk, Spiritismus (inklusive Tische rücken) oder August Sanders typologische Porträtfotografien ebenso an wie heutiges Body-Tracking und -Shaping. Hier und da lässt sich der Bogen sogar bis zu Erwin Wurms „one minute sculptures“ oder den „Living Sculptures“ von Gilbert und George spannen. Ein Vergleich späterer Reenactments dieser Reenactments, in welcher Hinsicht auch immer, erscheint jedenfalls nicht ohne gewissen Reiz.
Während das britische Duo Gilbert und George oft weniger auf gymnastische als auf gesangliche oder onomatopoetische Übungen setzt („we get drunk ... we get very drunk ... we get very very drunk ...“), ist über die musikalischen Fähigkeiten der finnischen Bauernburschen leider nichts bekannt. Als alltagpraktisch erweist sich die eine oder andere Übung der „Folklig Idrott“ aber trotzdem: Wenn die Fußball-Europameisterschaft in den nächsten Wochen in die entscheidende Phase eintritt und man sich vor lauter Sofasitzfußball mehr und mehr verkrampft, empfiehlt sich die Übung „Stiga upp med flaska på pannan“. Die Sache ist recht einfach und lässt sich auch im Freundeskreis ausprobieren: Wer es schafft, aus kniender Stellung aufzustehen und dabei eine Flasche auf der Stirn zu balancieren, der hat gewonnen. Leider spielen die Finnen bei der EM nicht mit. Die Übung kann aber ihnen zur Ehre ausgeführt werden.
Maximilian Stejskal – Folklig idrott
hrsg. v. Marie-Isabel Vogel u. Alain Rappaport
Texte englisch u. schwedisch
von Maximilian Stejskal, Marie-Isabel Vogel, Alain Rappaport
Gestaltung Prill Vieceli Cremers
Gebunden, 120 Seiten, geb., 74 SW-Abb.
Edition Patrick Frey, Zürich 2016
ISBN: 978-3-906803-02-9
52,00 Euro
Fotos © Maximilian Steejskal, Edition Patrick Frey