Für ihre Ausstellung im Berliner Haus am Waldsee wählten die international aktiven Architekten von Graft den paradox klingenden Titel „Distinct Ambiguity". Diese „klare Mehrdeutigkeit" beschreibt ganz gut ihren künstlerischen Ansatz, ihre Projekte und ihre Position im internationalen Architekturbetrieb. Auf den zwei Etagen der Villa im beschaulichen Berlin-Zehlendorf werden die Projekte in aller Welt vor allem mit aufwändigen Computergrafiken und kleinen Modellen vorgestellt, Grundrisse oder Pläne sind nur wenige zu sehen. In den großzügigen Räumen im Erdgeschoss erläutern sie ihren Ansatz mit Hilfe von Objekten und einzelner Begriffe wie „Neugier", „Erzählung" oder „Glück" sowie Zitaten von Friedrich Schlegel bis Steve Jobs. Das ergibt eine schön poppig bildhafte Collage, von der Berliner Currywurst bis hin zu einem Maschinengewehr, die für eine „offene Entwurfspraxis" stehen soll. Das schwankt zwischen Hochkultur und Kitsch, Provokation und amüsantem Kuriositätenkabinett.
Da passt der Tisch „Phantom" ganz gut hinein, den die Architekten für Stilwerk entworfen haben. Er sieht aus wie ein elegant verwehtes Tischtuch, dessen Ecken leicht den Boden berühren. Doch darunter verbergen sich weder Tischplatte noch Tischbeine, das Hightechprodukt aus Glas- und Kohlefaser trägt sich selbst. Dabei widerspricht die makellose Oberfläche glänzend dem von Graft zitierten Künstler Nam June Paik: „when too perfect, lieber Gott böse". Da haben die Architekten sich anscheinend gegen den lieben Gott und für ihre Auftraggeber entschieden und ihre Philosophie eine Pointe sein lassen.
Die Berliner Projekte von Graft beeindrucken ebenfalls mit einem glänzenden Finish der skulpturalen Einbauten, die entweder lässig gekurvt oder raffiniert facettiert eine elegante Raumlandschaft ergeben. Bei ihren Umbauten für das Hotel Q oder für eine Zahnarztpraxis am Kurfürstendamm verwandelten sie so die ursprünglich simple Geometrie der Räume in ein dynamisches, farbiges Kontinuum, in dem Boden und Wände miteinander verschmelzen. Das hat einen frischen, futuristischen Charme, der zugleich sehr zeitgenössisch aber auch ein bisschen retro ist. Das erinnert mit seinen kessen Kurven an den positiven Elan von Verner Panton, Eero Saarinen oder Ken Adams, deren zukunftsgewandter Optimismus der sechziger und siebziger Jahre zwischenzeitlich auch schon der Vergangenheit angehörte. Aber die Wurzeln solch vermeintlich innovativer Formensprache reichen weiter zurück, bis zu den verspielten Raumerfindungen des Barocks und Rokokos, die auch im Bilderwirbel des Ausstellungskatalogs hin und wieder auftauchen.
Dagegen sind der Entwurfsprozess von Graft, die Visualisierungen und besonders die aufwändige, spätere technische Umsetzung solcher anspruchsvoller Raumgebilde extrem modern und ohne Computer oder Hightech-Materialien gar nicht denkbar, somit sehr zeitgenössisch. Aber es geht den drei Architekten nicht nur um die äußere Form. Beim Rundgang durch die Ausstellung fallen häufig die Worte „Klimawandel", „Nachhaltigkeit" und „Ökologie". Technische Überlegungen können für sie ein Ansatzpunkt für einen Entwurf sein und ungewöhnliche Formen generieren.
Wie bei den Villen für Kuala Lumpur, deren weiße, äußere Hülle Regenwasser sammeln kann und mit ihren grafisch gekurvten Ausbuchtungen der besseren Durchlüftung dienen. Oder bei dem „Vertical Village" in Dubai, dessen Flachbauten unter einem riesigen, gewölbten Sonnendach verschwinden, das sowohl Schatten spendet als auch Solarkollektoren optimal ausrichtet. Die Hochhausscheiben hingegen sind auf möglichst viel Verschattung angelegt. So gibt es für viele Details und große Gesten gute Gründe, was – sehr deutsch – rationale Erklärungen für ästhetische Entscheidungen geben soll. So auch bei dem Entwurf für ein Jüdisches Museum in Moskau. In dem historischen Busdepot von Konstantin Melnikov entwickeln sie eine sanft gewellte Hügellandschaft, in der Büros und Ausstellungsräume zum Teil unterirdisch angeordnet werden und die so die filigrane Konstruktion mit ihre Spannweite eindrucksvoll zur Geltung bringt.
Mit Worten und Bildern können die Architekten aus Los Angeles, Berlin und Peking für sich gewinnen, deswegen ist man auf die realisierten Bauten gespannt. Ob sie dann räumlich, funktional oder städtebaulich überzeugen, ist die Frage. Denn die meisten Entwürfe sind noch Projekte oder werden nie gebaut, wie der damals spektakuläre Entwurf für eine temporäre Kunsthalle in Berlin. Die transparent wirkende Wolke, die auf dem Schlossplatz zu schweben schien, stand zumindest im konservativen Berliner Baugeschehen mal für einen Aufbruch in eine architektonische Zukunft. Doch der Optimismus ist dem internationalen Team anscheinend noch nicht ausgegangen.
Graft Architects – Distinct Ambiguity
Von 23. November 2011 bis 12. Februar 2012
Haus am Waldsee, Berlin
www.hausamwaldsee.de
Katalog zur Ausstellung:
Distinct Ambiguity
Herausgegeben von Katja Blomberg
Hardcover, 208 Seiten, englisch
Gestalten, Berlin, 2011
35 Euro
www.gestalten.com
Neu erschienenes Hörbuch:
Graft Architekten / Don't be so German!
Von Moritz Holfelder
Audiobuch, deutsch
DOM Publishers, Berlin, 2011
14 Euro
www.dom-publishers.com