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Alles, was Stuhl sein kann
von Richter Claus | 01.11.2011

Im Sitzen! Eine wunderbare Sache! Die erste erhobene Sitzgelegenheit war wahrscheinlich alles, was nicht der Fußboden war. Ein Stein, ein umgestürzter Baum, ein Felsvorsprung. Diese allerersten Sitzmöbel waren zwar noch nicht hergestellt, niemand hat sie entworfen oder konstruiert, aber sie waren durch den veränderten Blick auf ihre ursprüngliche Form, durch die Entdeckung ihrer möglichen Sitzfunktion zu dem geworden, was man später Stuhl, Hocker, Sofa oder Chaiselongue nannte.

Die Geschichtsschreibung sagt, dass gefertigte Stühle lange Zeit Ausdruck eines hohen gesellschaftlichen Status waren. Das Volk saß auf dem Boden oder auf Schemeln, nur dem hochgestellten Machthaber war die kunstvoll erhobene Sitzposition vergönnt. Erst das aufkommende Bürgertum machte den Stuhl zu einem alltäglicheren Sitzmöbel. Bedenkt man modernere Phänomene wie den „Chefsessel", ist der sozial erhöhende Aspekt des Stuhls offenkundig in manchen Bereichen nie so ganz aus der Welt des Sitzens verschwunden. Bis auf die Chefsessel dieser Welt ist der Stuhl, der eigentlich mal ein Thron war, allerdings inzwischen so allgegenwärtig, dass man vor lauter Auswahl oft den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Der weite Markt bietet Stuhlklassiker, experimentelle Stühle, bequeme Stühle, billige, teure Stühle und natürlich jede Woche ein weiteres Dutzend neuer Stühle, die in Form und Material um unsere wählerischen Hinterteile buhlen.

Doch es gibt auch Stühle, die keine Stühle sind, oder die einmal Stühle waren und nun neu zusammengefügt zu seltsamen Unikaten des Sitzens werden. Die erste Variante des seltsamen Sitzens ist ein Rücksprung auf den Beginn des Sitzens: Sich auf das setzen, was sich als funktional oder bequem anbietet. Wer hat nicht schon einmal im überfüllten ICE nach einer Zeit des erschöpfenden Stehens seinen Koffer zu einer halbwegs veritablen Sitzgelegenheit umfunktioniert? Bahnhöfe mit ihrem inzwischen oft vollkommen sitzgelegenheitsfreiem Design sind ein Fest für den Beobachter seltsamen Sitzens. Da seit Jahren die Bestuhlung der Bahnsteige immer mehr reduziert wird und in manchen Städten inzwischen gegen Null tendiert, sieht man erschöpfte Reisende inzwischen auf allem sitzen, was nicht mit Stacheln, Spikes oder spitzen Glasscherben gewappnet wurde. Leute sitzen auf Vorsprüngen, Mülleimern, Transportkarren und Handläufen. Etwas besser trainierte Reisende beherrschen es inzwischen sogar auf böswillig abgeschrägten Flächen eine einigermaßen erholsame Sitzposition zu finden.

Doch nicht immer ist die Not Mutter des seltsam-eigenwilligen Sitzens. Es gibt viele Leute, die sich oft und gerne auf Tischkanten setzen, und nicht weniger Menschen, die lieber auf der Lehne des Sofas Platz nehmen, als sich auf dessen breite Kissen zu werfen. Ein Spruch aus Kindheitstagen gibt hier zu denken: „Auf den Tisch gehört der Kuchen, da hat der Popo nichts zu suchen." „Gesetze sind da, um gebrochen zu werden", denkt da der jugendliche Tischsitzer und pfeift auf den Stuhl, den die dummen Erwachsenen in ihrer natürlich endlosen Spießigkeit bevorzugen. Teenager sitzen zudem auch gerne auf den Rückenlehnen von Parkbänken, sehr zum Ärger traditionsbewusster älterer Mitbürger, aber irgendwas muss ja wohl dran sein. Eine beliebte Version ist auch das „auf einem umgedrehten Stuhl-Sitzen", die Rückenlehne zeigt hier nach vorne, man sitzt breitbeinig wie auf einem Reittier auf dem Stuhl und stützt die Armen auf der nun vor einem bereit stehenden Lehne ab. Besonders beliebt ist diese Position offenbar bei Polizeiverhören – aber auch auf Striptease-Bühnen.

So also werden Tische, Sofalehnen, Bahnsteigmobiliar und viele andere Dinge durch ihre Neu-Benutzung im Auge des Benutzers zu Stühlen – oder schlicht zu Sitzgelegenheiten. Ein Phänomen, das zu einer sitzfreundlichen Gestaltung von Koffern und Tischkanten führen könnte. Im Falle von Koffern wäre der Erfolg garantiert! Nutzt man nun so einen wundervoll sitztauglichen Koffer für eine Reise ins ferne Ausland, erwartet einen eine neue Welt ungewöhnlicher und hochgradig spezieller Stühle. Meisterhafte und inspirierend individuelle Stuhlfabrikationen findet man zum Beispiel in China. Der Fotograf Michael Wolf hat in seiner Fotoserie „Sitting in China" sogenannte „Bastard Chairs" der einfachen Bevölkerung dokumentiert, die sich dort scheinbar in prachtvoller Überfülle finden lassen. Ob hier allein der Spruch „Not macht erfinderisch" das dargestellte Spektrum an Einfallsreichtum abdeckt, ist zu bezweifeln, denn oft zeigt sich an den notdürftig zusammengebastelten Stühlen eine große Liebe zum Detail.

„Bastard Chairs" sind, wie der Name schon vermuten lässt, aus Elementen alter, ehemals vollständiger Stühle und Sitzmöbel neu zusammengesetzte Kreationen von bestechender Schlüssigkeit. Eine alte Rückenlehne wird so zum Beispiel durch ihre Platzierung auf einer Obstkiste Teil einer neuen veritablen Sitzgelegenheit, bereits zerfallende Stühle werden mit seitlich festgeschraubten Holzstücken stabilisiert, andere Stühle gleichen in ihrem wilden Materialmix aus Backsteinfüssen, folienumhüllten alten Sitzpolstern, Autoreifen und mit Stricken festgezurrten Schaumstoffteilen den anarchischsten Entwürfen westlicher Designer.

Die „Bastard Chairs" der chinesischen Hinterhöfe und Gassen sind individuelle und in ihrer vermeintlichen Einfachheit ungemein kreative Lösungen der Aufgabe, eine erhöhte und zugleich bequeme Sitzposition zu finden. In der Dokumentation zu Wolfs Arbeit liest man, dass einige der Besitzer (hier auch im wahrsten Sinne des Wortes!) dieser selbstgebastelten Stühle ausgesprochen unleidlich auf den westlichen Fotografen reagierten, der ihr offensichtliches Elend dokumentierte. Die aus einer Notdürftigkeit entstandenen Stühle faszinieren in der ihnen innewohnenden Kreativität das westliche Auge, sie sind zugleich aber eben auch hochgradig persönliche Objekte, und damit auch ein sensibler und verletzlicher Teil der Identität ihrer Benutzer. Heute sind die „Bastard Chairs" anscheinend im Zuge des Wandels der sich „modernisierenden" chinesischen Gesellschaft größtenteils aus dem Stadtbild verschwunden, zum Glück jedoch hat Michael Wolf uns einen Blick auf etwas erhalten, was wenig mit Rückschritt oder Elend und viel mit Kreativität und einer Philosophie des Sitzens zu tun hat. Bahnreisende sollten ein Auge darauf werfen, wer weiß, wie der nächste „moderne" Bahnsteig uns empfängt.

Eine umfassende Übersicht an Stadtmobiliar finden Sie hier:
Stadtmobiliar bei Stylepark

In unserer Serie zu den Produkttypologien sind bisher erschienen:
„Alles, was Möbel ist" von Thomas Wagner
„Nicht anlehnen!" über Hocker von Nina Reetzke
„Von Ruhe und Gemütlichkeit" über Lounge Chairs von Mathias Remmele
„Schaumstoffwiese, länger frisch" von Markus Frenzl
„Im Universum der Stühle" über Stühle von Sandra Hofmeister

Fotos: Alejandro Mosquera, Grafik: Sebastian Reuthal, Stylepark