Sicher – ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl. Das ist aber längst nicht alles. Faktum ist: Es gibt jede Menge Stühle, die sich bei genauerer Betrachtung in Form, Farbe, Material und Sitzposition deutlich voneinander unterscheiden. Nicht anders verhält es sich mit einem Hocker. Wie viele Beine braucht er? Ist er nur zum Sitzen da? Welche Haltung nehmen wir an, wenn wir ihn statt eines Stuhls mit Lehne wählen? Was macht, ganz praktisch gedacht, ein Regal aus und worin unterscheiden sich die unterschiedlichen Modelle, seien sie an der Wand befestigt oder frei im Raum aufzustellen? Oder, um ein ganz anderes Feld zu nennen: Wie hat sich das Büro verändert? Wie gestalten Büromöbel heute das Arbeiten und wodurch sind die Möbel, die uns dabei ja unterstützen sollen, geworden, was sie sind? Ähnliches gilt für das Sofa. Welche verschiedenen Sofa-Typen gibt es und was verbinden wir mit diesen? Wollen wir auf einem Sofa nur sitzen oder auch liegen? Welche Sehnsüchte und Fantasien weckt eine Couch, welche eine Ottomane? Sind es unsere eigenen, oder reden unbewusste Übernahmen aus vergangenen Zeiten dabei ein Wörtchen mit? Und wie steht es mit Sesseln oder Dingen, die auf den schönen Namen „Multifunktionsmöbel" hören? Fragen über Fragen. Stellt man sich ihnen, so stößt man früher oder später auf das Feld der Produkttypologien. Diese versprechen, was oft fehlt: Überblick. Es existieren verschiedene Ansätze, Produkte mittels Typologien zu systematisieren. Was sie miteinander teilen, ist das Ziel, ein an sich heterogenes Produkt-Spektrum in Gruppen zusammenzufassen, die möglichst homogen sind. Dadurch können einerseits die wesentlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Produkten verdeutlicht werden, zum anderen werden innerhalb der Gruppen Aussagen darüber möglich, welche Marketingstrategien Erfolg bei der Vermarktung versprechen. Das ist aber eben nicht alles. Denn wer beginnt, sich Rechenschaft über Kategorien, Produkttypologien und andere Arten der Systematisierung von Möbeln aller Art zu geben, der entdeckt nicht nur jede Menge Produkte, die der jeweiligen Ordnungsregel gehorchen und sich entsprechend einsortieren lassen; er entdeckt auch jede Menge Ausnahmen und Grenzfälle. Es kann, ist der Blick erst einmal geschärft, sogar geschehen, dass die eine oder andere Kategorie porös zu werden beginnt. Plötzlich zeigen sich unterschiedliche historische Schichten und Ablagerungen. Statt die Homogenität einer bestimmten Gruppe bestätigt zu finden, erkennt man neue Typen, die das Gesamtbild verändert haben. Sichtbar werden Sprünge in der Entwicklung, Brüche, Deplatzierungen und Verkettungen, bislang übersehene Kontexte, Beziehungen und Hierarchien. Wir wollen deshalb in den kommenden Wochen die wichtigsten Produkttypologien vorstellen und versuchen, Brüche und Wendungen zu markieren, die sich in ihnen beobachten lassen. Sichtbar werden dabei jede Menge „Familienähnlichkeiten", mithin formalästhetische, konstruktive, aber auch historische, semantische und soziale Übereinstimmungen und Differenzen. Gelingt das Experiment, so informieren die Übersichten nicht nur über all das, was es an Stühlen, Hockern, Tischen, Sesseln und Sofas gibt, sondern sie erzählen auch eine andere Geschichte des Designs. Eine, die Vergangenheit nicht als abgeschlossene Einheit und die Gegenwart nicht als deren logische Folge begreift, sondern all die Rückgriffe, Reprisen, Revivals und Brüche mit einbezieht, die in der Praxis von Designern ganz selbstverständlich präsent sind.
Alles, was Möbel ist
von Thomas Wagner | 17.10.2011
Grafik: Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Grafik: Dimitrios Tsatsas, Stylepark