Piero Lissoni
07.11.2015
Der Architekt und Designer Piero Lissoni prägt mit seinen feinen und eleganten Entwürfen maßgeblich das aktuelle italienische Design. Nicht nur als Kreativ-Direktor der Marken Living Divani, Porro, Glas Italia und Boffi, sondern auch durch zahlreiche Kooperationen mit Herstellern wie Alessi, Cappellini, Cassina, Desalto, Fantini, Flos, Fritz Hansen, Kartell, Knoll, Lema, Lualdi, Matteograssi und Tecno. Mit seinem Studio Lissoni Associati, das der Absolvent des Mailänder Polytechnikums 1986 zusammen mit Nicoletta Canesi gegründet hat, gestaltet er aber nicht nur Küchen, Bäder, Möbel, Accessoires und Leuchten, sondern ist auch in den Bereichen Fotografie, Grafik- und Ausstellungsdesign sowie Architektur tätig. Sein Spektrum als Architekt reicht von Hotels wie dem Conservatorium in Amsterdam, luxuriösen Privathäusern wie in Forte dei Marmi bis hin zu großen Bauten wie den Firmensitzen von Glas Italia, Matteograssi und Boffi. Martina Metzner hat mit Piero Lissoni, der am 17. Januar als Special Guest auf der Domotex 2016 zu erleben sein wird, über seine Vorliebe für Berberteppiche, weiche Qualitäten im Raum und gefährliche Architektur gesprochen.
Martina Metzner: Wir haben zum vergangenen Mailänder Salone del Mobile eine Fülle an abgepassten, modernen handgefertigten Teppichen gesehen – beispielsweise bei Nodus und Moooi. Woher, meinen Sie, kommt die neue Lust am Teppich? Und was ist anders als früher?
Piero Lissoni: Dass jetzt nun wieder handgemachte, abgepasste Design-Teppiche in Erscheinung treten, ist für mich nichts Neues. Heute wird der Teppich aber anders eingesetzt: Während er früher ein Sammlerstück war, zoniert er heute als Designelement den Raum. Der Teppich schafft ja eine gewisse weiche Qualität und Stofflichkeit innerhalb neutraler, glatter Flächen. Es ist interessant, eine neue Generation von Teppichen zu entwerfen, weil sie die antiken Teppiche der Zukunft sein werden – und eigentlich gibt es aktuell wenige neue Teppich, die wirklich toll sind.
In der gemeinsamen Wohnung mit ihrer Lebenspartnerin Barbara Hickl in Berlin haben Sie sich im Wohnzimmer für einen historischen Teppich aus schwarz-weißen Streifen, der in Anatolien hergestellt wurde, entschieden. Was schätzen Sie an diesen handgeknüpften Teppichen?
Piero Lissoni: Teppiche sind aus meiner Sicht als Kunstwerk sehr interessant. Jeder abgepasste Teppich erzählt eine echte, wahrhaftige Geschichte. Sie werden wie preziöse Textilien per Hand gemacht, an den unterschiedlichsten Orten der Welt. In einer gewissen Weise tragen sie Poesie in sich. Ein Teppich aus dem Kaukasus erzählt etwa die Geschichte einer bestimmten Familie, eines bestimmten Stammes, den Moment, in dem er gemacht wurde. Auch kulturelle Symbole wie Tiere, Blumen oder besondere Begebenheiten wie die Jagd auf einen Tiger – natürlich alle stilisiert – transportieren Geschichten. Ich hoffe, dass die Teppiche, die nun entstehen, ebenso Geschichten erzählen werden.
Zu welchem Teppich haben Sie denn einen besonderen Bezug?
Piero Lissoni: Ich besitze Berber-Teppiche, die aus Tunesien stammen. Auch wenn diese bloß ein geometrisches Muster haben, erzählen sie doch eine Geschichte. Alle Teppiche, die ich in meinem Leben gekauft habe, sprechen zu mir, wenn ich sie anschaue – wie eine Stimme, eine Musik, die zu mir dringt, wie wenn man abends am Ufer des Meeres sitzt und der Wind Geschichten aus der Ferne übermittelt. Man muss nur den Mut haben, ihnen zuzuhören. Einer, der mir besonders gut gefällt, stammt von einem Berber-Stamm aus dem hohen Atlas. Er wurde aus unterschiedlichen dicken, handgefärbten Wollfäden geknüpft. Die Familie bekam die Ziegenwolle für den Teppich nicht auf einmal, weswegen sie die rote Farbe zum Färben immer wieder neu mischen musste. Mit der Folge, dass sie immer mit einem anderen Rotton gefärbt haben. Der eine Teil des Teppichs geht nun eher Richtung Orange, der andere geht ins Violett. Vielleicht sind in diesem Teppich 50, 60, 70 unterschiedliche Rottöne. Sie berichten von den unterschiedlichen Zeitabschnitten im Leben dieser Familie. Am Ende ergibt diese Färbung ein lebendiges Bild, einen roten Teppich mit feinen Linien.
Beim Entwurf von Produkten und Räumen interessiert Sie besonders wie diese benutzt werden und auch welche alltäglichen Rituale mit ihnen verbunden sind. Welche Rituale pflegen wir hier in Europa hinsichtlich des Fußbodens? Und: was beachten Sie bei der Gestaltung von Böden?
Piero Lissoni: Mehr als über die Rituale müssen wir uns im Okzident über den Gebrauch von Fußböden Gedanken machen. In Japan, Korea oder Thailand betritt keiner das Haus mit Schuhen. Im Westen hingegen ziehen wir die Schuhe selten aus. Wir brauchen hier robustere Bodenbeläge als in Asien oder auch im Orient. Wenn ich also Gebäude in Asien entwerfe, muss ich dies berücksichtigen. Gleichzeitig müssen diese Böden präzise in die Architektur passen. Ich versuche stets in die Architektur weiche Oberflächen zu integrieren – etwa mit Teppichen, nicht nur aus Wolle oder Seide, sondern auch aus Kokosfaser oder Rattan. Allerdings verlege ich Teppiche nie als Auslegeware. Meine präferierten Böden sind Zement oder Holz – darauf lege ich jene abgepassten Teppiche.
Als Architekt und Designer, der weltweit Projekte realisiert, kommen Sie mit vielen verschiedenen Kulturen zusammen. Bei welchem Projekt oder in welchem Land haben Sie denn in puncto Bodengestaltung dazugelernt beziehungsweise sind ganz andere Wege gegangen?
Piero Lissoni: Um die Wahrheit zu sagen, bin ich nie einen komplett anderen Weg gegangen. Wenn, dann habe ich immer dazugelernt – auch in Sachen Bodenbelag. In Japan habe ich etwa gelernt, wie man den besten Holzboden der Welt verlegt. In Deutschland habe ich gelernt, wie man Zementböden perfekt macht. Jede Kultur lehrt mich etwas. Aber bei keinem Projekt gab es etwas, was ich davor gar nicht wusste beziehungsweise was mich vollkommen überrascht hat. Ich konnte und kann immer meine Ideen umsetzen – oder sie werden sogar noch besser umgesetzt, da es in einem Land oder bei einem Projekt eben lokale Spezialisten gibt, die dies besonders gut beherrschen.
Sie haben in einem Interview mit Sandra Hofmeister für Stylepark im Jahr 2010 gesagt, dass Sie „ein Humanist und Renaissance-Mensch“ seien, der auf der „Suche nach Schönheit“ ist. Die Verbindung von Schönheit und Funktion haben sie als „unselig“ bezeichnet. Nun, wie verhält sich das beim Boden: Wie viel Schönheit sollte drin stecken – und wie viel Funktion?
Piero Lissoni: Diese Aussage von damals kann ich heute so nicht mehr bestätigen. In vielen Interviews werde ich gefragt, ob ich die Form der Funktion vorziehe oder umgekehrt. Ich habe immer in einer stets ironischen Art und Weise geantwortet, das sei eine sehr deutsche Sichtweise, die Funktion auf Augenhöhe mit der Form anzusiedeln, „Form und Funktion“ wie es so schön heißt. Natürlich hat eine Form immer eine Funktion und umgekehrt. Ein Tisch ist immer ein Tisch; Ein Stuhl immer ein Stuhl – ob er hässlich ist oder nicht. Aber eine Leuchte kann nie ein Kochtopf sein. Eine Leuchte ist eine Leuchte, und ein Kochtopf ist ein Kochtopf. Eine Leuchte kann hässlich sein, aber hervorragendes Licht spenden. Da entscheide ich mich lieber für eine schöne Leuchte, die kein so gutes Licht spendet als umgekehrt. Die Teppiche haben das gleiche Problem. Natürlich müssen sie resistent und sicher sein, das Gewicht der Dinge und Menschen tragen. Trotzdem würde ich mich im Zweifel immer für einen schönen und nicht für einen rein funktionalen Bodenbelag entscheiden.
Sie sind ein ausgesuchter Kenner der italienischen Renaissance, haben zuletzt auch die Ausstellung „Bernardo Luini e suoi figli“ im Palazzo Reale gestaltet. Gibt es ein Referenzobjekt, was Sie angesichts einer besonders guten Bodengestaltung hervorheben möchten?
Piero Lissoni: Wenn ich die Kirchen aus dem 14., 15. oder 16. Jahrhundert betrete, sind dort Mosaike verlegt, die mehr erfahrbares Kunstwerk als Gebrauchsgegenstand sind – trotzdem kann man auf ihnen gehen. In den Palästen sind es Intarsien aus Holz. Form und Funktion sind immer gleichsam vorhanden. Ein Fußboden, der mich besonders beeindruckt hat, ist aber nicht in Italien zu finden, sondern in Japan. Vor einigen Jahren war ich im alten Kaiserpalast in Kyoto. Der Boden darin macht Geräusche, erklingt, wenn man darüber läuft, wie als wäre darunter ein enormes Instrument. Ich habe dort einen Mann gefragt, ob da etwas falsch gebaut worden sei. Er antwortete mir, dass das so seine Richtigkeit habe. Denn früher habe man dem Kaiser oft nach dem Leben getrachtet. Um dies zu verhindern, hat der Kaiser diesen Fußboden bauen lassen. So war er immer im Bilde, wenn sich ihm jemand näherte – in guten wie in bösen Absichten. Fantastisch, nicht?
Sie sagen, Architektur sei gefährlich. Wie gefährlich kann denn ein Boden sein?
Piero Lissoni: Er ist ebenso gefährlich – aber mit einer Differenz. Der Belag wird auf den Boden des Gebäudes gelegt. Er kann gefallen, oder auch nicht. Und wenn er mir nicht gefällt, kann ich ihn austauschen. Die Architektur an sich ist deswegen gefährlich, weil sie bleibt und man sie nicht mehr rückgängig machen kann. Daher sind Architekten gefährlich, sehr gefährlich.
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