Gegenwärtig lassen sich verschiedene urbane Trends beobachten. Im globalen Norden verändern die Städte ihr Gesicht, die Innenstädte, die einmal so autofreundlich ausgerichtet waren, weichen polyzentrischen Ballungsräumen, die an öffentliche Verkehrssysteme angeschlossen sind; und durch die Zunahme von Home-Offices werden Bürohochhäuser allmählich überflüssig. Arbeit und Leben finden also nicht mehr zwangsläufig an verschiedenen Orten statt und Fahrräder erfreuen sich wieder großer Beliebtheit. Im globalen Süden hingegen entstehen unzählige neue und immer größere Städte, die häufig keine Infrastruktur haben. Während das konventionelle Auto auf beiden Erdhalbkugeln noch das vorherrschende Fortbewegungsmittel ist, die globalen Ölförderreserven langsam aber sicher zur Neige gehen und es zudem das verstärkte Bestreben gibt, den Kohlenstoffdioxidausstoß endlich zu reduzieren, müsste sich doch eigentlich ein potenzieller Massenmarkt für Elektroautos auftun. Oder etwa nicht?
In den Städten im Süden mangelt es oft an einer Infrastruktur für Massenverkehrsmittel in Form von Stadtbahnen und Bussen, das heißt, der Alltag ist von Benzinschwaden und höllischen Staus geprägt. Auf der Nordhalbkugel hingegen existiert keine ausreichende Infrastruktur für Elektroautos, weder gibt es ein dichtes Netzwerk von Elektroladesäulen für Elektroautos und -fahrräder in den Parkhäusern der Innenstädte, noch ist ein ausreichender Ausbau erneuerbarer Energien gewährleistet, um den Strombedarf für den gewaltigen Zuwachs an potenziell selbstfahrenden und selbstparkenden Elektroautos in der Zukunft decken zu können.
Fehlt es einfach an einer ganzheitlichen Planung? Oder gibt es vielleicht gar keine entsprechende Vision? Möglicherweise handelt es sich hier lediglich um das berühmte Henne-Ei-Problem. Der Stand der Dinge in Bezug auf Elektroautos lässt aber eher vermuten, dass es die Autohersteller sind, die mit dem Kopf im Sand nach Straußeneiern suchen.
Im Jahr 2014 hat die deutsche Autoindustrie 25,8 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert. Von dieser stolzen Summe hat Volkswagen (VW) allein fast die Hälfte aufgebracht. Man fragt sich allerdings, was da eigentlich geforscht wurde, da die Reduktion von Dieselmotoremissionen offenkundig kein Thema war. Vielleicht hat man sich ja mit der Optimierung der Leistung bestehender Verbrennungsmotoren beschäftigt? Tatsache ist jedoch, dass die Effizienz von Verbrennungsmotoren wohl niemals mehr als 40 Prozent betragen wird; bei Elektroautomotoren sind im Vergleich dazu bis zu 95 Prozent möglich. Trotz der Energiewende hinkt Deutschland aufgrund seiner irrationalen Vorliebe für Dieselmotoren bei der Entwicklung von Elektroautos hinterher. Der Ausbau des Netzes für Elektroladesäulen lässt einiges zu wünschen übrig. Die Verkaufszahlen von E-Autos hinkten sogar so weit hinter den Vorgaben der Regierung zurück, dass das Kabinett Mitte 2016 auffallend kurzentschlossen Mittel bereitgestellt hat, um den Markt anzukurbeln. Aber es waren lediglich 300 Millionen Euro, die den Verkauf der E-Autos fördern sollten, wobei die deutschen Autohersteller einwilligten, Nachlässe in Höhe der gleichen Summe zu gewähren. Bislang haben insgesamt 3.000 Autokäufer das Programm in Anspruch genommen.
Unter Strom in die Zukunft?
Irgendetwas scheint schiefgelaufen zu sein. Sind es die fehlenden Ladestationen oder der mangelnde „Komfort“, wie er mit E-Autos assoziiert wird? Oder der Preis? Oder haben Politiker und Autohersteller schlichtweg vergessen, dass es eigentlich um den Verkauf von Mobilitätssystemen gehen sollte und E-Autos ein zentrales Element davon sind? VW hat offenbar nach dem Diesel-Desaster etwas frischen Wind bitter nötig und am 16. Juni 2016 die neue Zukunftsstrategie der Volkswagengruppe verkündet. Im Kerngeschäft solle zukünftig der Schwerpunkt auf Mobilität liegen (Google macht das bereits vor). In diesem Zusammenhang heißt es: „Angesichts des in den kommenden Jahren rapide ansteigenden Markt- und Absatzvolumens von Elektrofahrzeugen wird der Volkswagen Konzern zudem die Batterietechnologie als neues Kompetenzfeld erschließen.” Der Plan beinhaltet wohl mehr als die Bereitstellung von 10 Milliarden Euro für eine Batteriefabrik, um kleinere und leistungsfähigere Batterien produzieren zu können, die durch ihr geringeres Gewicht eine höhere Geschwindigkeit und Reichweite ermöglichen. Indem die Batterietechnologie im Konzern verbleibt, sichert man sich hier Teile einer Wertschöpfungskette, die ansonsten verloren gehen würden. Das ist aber nichts anderes als eine gängige Strategie im E-Auto-Segment – also keine echten Neuigkeiten aus Wolfsburg.
Der amerikanische Hersteller Tesla verfolgt mit seinen Autos seit langem eine ähnliche Strategie. Das neueste Modell beschleunigt von 0 auf 100 in 2,5 Sekunden und hat, was bemerkenswert ist, eine Reichweite von rund 500 Kilometern. So weit kommt man auch ungefähr mit einem vollen Tank Super. Der Plan ist klar ersichtlich: E-Autos sollen möglichst herkömmlichen Autos mit Verbrennungsmotoren nachempfunden werden. Und dann wird gewetteifert, wessen E-Auto am „effizientesten“ ist, beziehungsweise welches die leichteste und beste Batterie an Bord hat.
Urbanisierung – das Internet der Autos?
Was aber will der Markt eigentlich? Einen Fokus auf Batterie und Reichweite? Das hängt sicherlich davon ab, wo sich die Märkte von morgen befinden. Damit wären wir wieder beim zweiten, bereits erwähnten Aspekt: der Urbanisierung. Der weltweit größte Markt für Automobile findet sich gegenwärtig in China, wo es schon jetzt einen großen informellen Markt für Ladestationen gibt. Im Hinblick auf das Wachstumstempo steht Indien an der Spitze. Und in Bezug auf Autoverkäufe liegen Asien und Südamerika bereits vor Nordamerika und Europa. Die Analysten bei Deloitte, PwC und McKinsey gehen davon aus, dass mit dem zu erwartenden Ansturm der Konsumenten einer neuen Mittelschicht, die gerne ein Auto besitzen möchten, China und Indien die Absatzmärkte der Zukunft sein werden. Und auch in Afrika steht die automobile Massenmarktdurchdringung noch bevor.
Vor dem Hintergrund der ehrgeizigen Klimaschutzziele wie sie China verkündet hat und der dortigen enormen Luftverschmutzung durch Auspuffgase von Verbrennungsmotoren ist es mehr als wahrscheinlich, dass China auf Elektroautos setzen wird. Ebenso wird es das Verkehrsmanagement und die Mobilität in seinen zahlreichen Megastädten durch Konnektivität verbessern wollen. Die Internetplattform „Alibaba“ ist bereits eifrig dabei, den Markt für E-Auto-Konnektivität zu erobern. Kürzlich hat es seine Technologie OS’ Car in einem SAIC Motor Corp. Roewe RX5 SUV Modell vorgeführt – der Einstiegspreis beträgt 148,800 Yuan (22.000 US-Dollar) – damit können Autofahrer im Voraus einen Parkplatz reservieren, einen Kaffee bestellen und alles mit dem unternehmenseigenen Alipay-System bezahlen. „Wir sind davon überzeugt, dass in Zukunft 80 Prozent der Funktionalität des Autos nichts mehr mit Transport zu tun hat“, erklärte der Vorsitzende von Alibaba als das Fahrzeug in Hangzhou vorgestellt wurde (Alibaba Wants a Slice of the World's Largest Car Market; Bloomberg News, 6. Juli 6, 2016).
Ganz ähnliche Worte waren kurze Zeit später vom Audi-Vorstandsvorsitzenden Rupert Stadler zu hören, als er seinem Wunsch Ausdruck verlieh, die Marke in ein digitales Automobil-Unternehmen verwandeln zu wollen. Die neue Wertschöpfungskette beschränkt sich dabei laut Stadler nicht nur auf Mobilität an sich und selbstfahrende Autos, sondern umfasst alle damit verwandten Produkte.
Das Internet der Autos könnte vor allem für den globalen Süden und seine riesigen Megastädte von Vorteil sein, denn dort könnten durch Car-Sharing Verkehrsstaus vermieden und durch Konnektivität das bestehende Straßennetz besser ausgenutzt werden. Damit kehren wir zum Aspekt der Reichweite von E-Autos zurück und zu ihrer Bestimmung. Gesetzt den Fall, dieser Markt befände sich im globalen Süden, welche Art von Elektroauto würde dort eigentlich gebraucht? Mit den Aspekten Tempo und Reichweite punkten zu wollen, wäre dort sicherlich der falsche Ansatz, da es nur die Nachahmung einer alten Idee bedeuten würde.
Reichweite als neues Statussymbol?
Je mehr Menschen in die Städte strömen, umso weniger Platz ist dort für sie. Das gilt natürlich auch für Autos. Die vernetzte Nutzung von Autos, E-Bikes, Stadtbahnen etc. erscheint daher unabdingbar. Die Reichweite einzelner Fahrzeuge spielt dabei zunächst eine untergeordnete Rolle. Nehmen wir Lagos als Beispiel: Die Vertreter der neuen Mittelklasse lieben ihre SUVs – die weniger über den Testosteronspiegel als über den sozialen Status seiner Besitzer verraten. Die Autos werden fast ausschließlich für die Fahrt zum Arbeitsplatz genutzt. Die Botschaft also lautet: Ich habe es nicht länger nötig, mit dem Sammeltaxi oder dem Bus zur Arbeit zu fahren. In Lagos sind das morgens maximal 30 Kilometer zur Arbeit, Auto parken und am Abend wieder nach Hause fahren. Das heißt: Eine große Batterie ist überhaupt nicht notwendig, solange durch die Konnektivität Staus vermieden werden und die Autos während den 10 Stunden Arbeitszeit wieder aufgeladen werden können.
In jeder anderen Mega-Stadt des globalen Südens ergibt sich im Prinzip das gleiche Bild. Neu-Delhi – es hat eine Ausdehnung von zuletzt 1.500 Quadratkilometern und steht an dritter Stelle der Wiki-Liste der Städte mit der höchsten Bevölkerungszahl – verfügt beispielsweise über ein mit Erdgas betriebenes öffentliches Transportsystem. Auch hier müssen keine großen Distanzen zurückgelegt werden. Tatsache ist zudem, dass alle diese riesigen Ballungszentren im globalen Süden sich von den kleineren Städten im Norden vor allem durch ihre weitaus höhere Bevölkerungsdichte unterscheiden. Auf gleichem Raum leben hier zweimal, in manchen Fällen sogar sechs- bis siebenmal so viele Menschen. Insgesamt müssen also geringere Distanzen überwunden werden, aber es gibt dafür mehr Verkehrsstaus. Eine Lösung böten daher E-Autos mit verhältnismäßig kurzen Reichweiten und Konnektivität, die gemeinschaftlich genutzt werden können und mit den entsprechenden Verkehrsleitsystemen interagieren.
Schauen wir also den Tatsachen ins Auge: Die Batterieentwicklung für E-Autos mit großen Reichweiten ist etwas für den globalen Norden und hat vielleicht eine gewisse Zukunftstauglichkeit als Ersatzstatussymbol. Im globalen Süden hingegen werden Elektroautos mit kurzen Reichweiten benötigt, die während der Arbeitszeit aufgeladen werden können. Angesichts der Stromknappheit in vielen dieser Megastädte ist das ein Problem für sich – allerdings nur, wenn es zu wenig Sonneneinstrahlung gibt. Andernfalls sind Sonnenkollektoren auf Autoabstellplätzen eine naheliegende Lösung, die in den größeren Ballungszentren, die die Vorstandsvorsitzenden von VW weniger häufig besuchen dürften, bereits allerorten zu sehen sind. In Nigeria gibt es beispielsweise konkrete Pläne für große Solaranlagen auf den Parkplätzen der Ministerien. Um auf den großen Märkten der Zukunft wettbewerbsfähig zu sein, könnte ein wesentlicher neuer Aspekt der Elektromobilität der Bau von smarten Dächern sein, weniger die Entwicklung neuer Batterien. Für die Übergangszeit und bis ein Netz aus elektrisch betriebenen Autos die Spritfresser abgelöst hat, wären überdies effiziente intermodale Elektromobilitätssysteme ganz hilfreich.