Was nicht zu sehen war auf der Biennale? Glas! Sollte Alejandro Aravena mit der Einladung zu „Reporting from the Front“ eine schwarze Liste versendet haben, dann stand Glas darauf ganz oben. Zusammen mit Kunststoff, Metall und Superstar-Architektur. Stattdessen überall Ton, Steine, Bambus, hier und dort auch einmal Beton. Diese Materialwelt zeigt, wie sehr Aravenas Biennale 2016 an die lokale, handgemachte und vor allem: nicht-industrielle Architektur glaubt.
Zurück zu den Wurzeln
Den Auftakt zur großen DIY-Bauausstellung setzen Aravena und sein Team selbst: Aus den Abfällen der Kunstbiennale 2015 haben sie die Eingangsbereiche von Arsenale und Zentralpavillon gestaltet, die Wände wurden mit aufgeschichteten Gipskartonbruchstücken verkleidet, und unter der Decke hängt ein Himmel aus verbogenen Stahlprofilen. Der Müll vom letzten Jahr wird zum Ausgangspunkt in diesem Jahr – wir bekommen auf zugleich ästhetische und didaktische Weise vorgeführt, wie wir mit unserem durcheventisierten Lebensstil Ressourcen verschwenden.
Also: zurück zu den Wurzeln! Aber wo finden wir die Wurzeln? In der Erde natürlich. Lehm ist einer der ältesten und global noch immer gebräuchlichsten Baustoffe. Trotzdem dürfte dem bescheidenen Material selten ein so großer Auftritt bereitet worden sein wie zu dieser Architekturbiennale. Gestampfte Wände, gebrannte Ziegel, glasierte Kacheln, getöpferte Modelle: so viel Lehm an der Front, als wäre den Architekten gerade erst aufgefallen, dass ihnen der ideale Baustoff regelrecht zu Füßen liegt. Und das ist in gewisser Weise auch so: „In den letzten zweihundert Jahren, seit Beginn der Industrialisierung, haben wir den Baustoff Lehm nicht mehr weiterentwickelt“, sagte Martin Rauch bei einem Vortrag während der Eröffnungstage der Biennale. „Alles Neue war immer besser“, so der Schweizer Lehmbauexperte und Gründer von „Lehm Ton Erde“, der auch mit einer Präsentation im Zentralen Pavillon vertreten ist. Während des Vortrags fertigte er live einen Ziegel, den er am Ende beschwörend hochhielt wie der Priester die Hostie. Das ist mein Leib...?
Lehm hat zweifellos seine Qualitäten. Er ist günstig, dauerhaft, gut fürs Raumklima und – ungebrannt eingesetzt – so gut wie CO2-neutral. Um Lehm zu verarbeiten, braucht es kein High-Tech. Architekten wie Francis Kéré, Anupama Kundoo oder Anna Heringer haben bewiesen, wie sinnvoll er sich als Baumaterial gerade an abgelegenen Orten verwenden lässt – ihre Arbeiten sind auch Teil der Hauptausstellung. Außerdem zeigt das Amateur Architecture Studio von Wang Shu lokale Ziegelbautraditionen in China, Studio Mumbai dürfen – wie schon 2014 – mit kleinen Materialmodellen ihre Architekturpraxis vorstellen, in der sie sich auf traditonelle Materialien und Handwerkstechniken berufen. Im Zentralen Pavillon zeigt David Chipperfield das Besucherzentrum für eine archäologische Stätte im Süd-Sudan, das er aus gestampften Lehmwänden bauen lässt. Die Spitze des Lehmbergs aber steht im großen zweiten Raum des Zentralen Pavillons, hier durften die Paraguayaner von Gabinete de Arquitectura eine ihrer aus einfachen Ziegeln konstruierte, geradezu fragil wirkende Raumstrukturen aufbauen – dafür gab es den Goldenen Löwen. Lehm ist, ganz klar, der Superstar in Aravenas Ausstellung.
Auf den vorderen Plätzen: Bambus, Holz und Stroh
Für pflanzliche, ebenso politisch-korrekte Baustoffe wie Bambus, Holz oder Stroh bleiben nur die Platzierungen hinter dem Lehm. Geduldet werden auch noch Recyclingmaterialien – hier ist die Studienarbeit von Hugon Kowalski und Marcin Szczelina aus Polen bemerkenswert, die die Müllwirtschaft in Mumbai untersucht und „A Brief History of Garbage“ geschrieben haben. Naturstein oder Beton kommen ebenfalls zu ihrem Recht – vor allem, wenn sie experimentell eingesetzt werden wie bei den Gewölben der Block Research Group von der ETH Zürich oder bei Ensambles archaischen Objekten in karger Landschaft. Ausnahmen bestätigen die Regel: etwa der sehenswerte Pavillon aus Betonfertigteilen der „Organization for Permanent Modernity“ aus Belgien, das Outtake einer Markthalle in einem migrantischen Viertel in Anderlecht. Oder das Projekt von Samuel Gonçalves aus Portugal, der Prefab-Häuser auf Basis von Beton-Abwasserrohren bauen möchte.
Am Ende des Rundgangs durch die Hauptausstellung sind die Fingerspitzen ganz trocken, so viele raue, offenporige, staubige Oberflächen hat man angefasst. Auch Gerüche bleiben in Erinnerung: Schafig-stallig riecht die Filzjurte von Rural Urban Framework, waldig-feucht der Bambus im Zentralpavillon. Überhaupt ist diese Biennale eine ziemlich handfeste Angelegenheit: Viele Präsentationen setzen auf Modelle, auf Materialproben, auf Ready-Mades und eins-zu-eins-Versatzstücke realer Architektur. Detaillierte Pläne oder Analysen werden den Besuchern eher selten zugemutet.
Eine Frage der Größe
Eine Frage bleibt allerdings offen: Reichen all diese lokalen, nachhaltigen Ansätze wirklich aus, um das enorme Bedürfnis nach Wohnraum zu befriedigen? Viele der gezeigten Projekte sind eher kleinmaßstäblich, liegen auf dem Land oder allenfalls im suburbanen Raum. Was aber ist mit den Städten, wie können wir große Siedlungen, verdichtete Räume und Hochhäuser bauen? Aus Stampflehm? Deswegen wirkt auch die Installation „Neubau“ von BeL Architekten aus Köln so erfrischend: eine Modelleisenbahnlandschaft aus leuchtend blauem, ökologisch fragwürdigem Hartschaum. Es ist die materielle Antithese, die sich nonchalant zur Masse und zum großen Maßstab bekennt, weil nur so ausreichend Wohnraum in kurzer Zeit geschaffen werden kann. Alejandro Aravena und sein Team haben viele bemerkenswerte Ansätze und Projekte aufgetan, die wir in Mitteleuropa bislang nicht auf dem Radar hatten. Doch die Frage, wie sich nachhaltiges, sozialverträgliches Bauen mit der großen Zahl vereinbaren lässt, die beantwortet diese Biennale nicht.
15. Architekturbiennale Venedig
bis zum 27. November 2016
Foto © Robert Volhard, Stylepark
Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Foto © Thomas Wagner, Stylepark