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Afro-Funktionalismus – Architektur aus und für Afrika
von Jeremy Gaines | 26.12.2014
Statt in die Höhe zu bauen, sollte vielmehr billiger Wohnraum für jene geschaffen werden, die niemals eine Hypothek abbezahlen können, aber vielleicht eine Mikrofinanzierung für einen kleinen Laden erhalten. Foto © Leopardi

Über die Arbeit von Architekten in wenig entwickelten afrikanischen Ländern wurde in diesem Jahr viel geschrieben und diskutiert. Es sind einige Bücher zu diesem Thema erschienen und auch die großen Zeitungen in Deutschland und in Großbritannien haben sich umfassend diesem Thema gewidmet. So auch Niklas Maak am 27. Juli in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Eine neue politische Architektur? Wie baut man für die Armen, die in die Städte drängen? Wie rettet man die Idee der Stadt?”, war die Überschrift. Aufgemacht war der Artikel mit einem schicken Foto von Iwan Baan, das die schwimmende Schule des Architekten Kunlé Adeyemi in Makoko, eine informelle Siedlung in der nigerianischen Stadt Lagos, aus der Vogelperspektive zeigt. Am 9. August erschien in „The Observer” ein Artikel mit dem Titel „Rebel Architects: Building a Better World” mit einem Bild derselben Schule in Lagos. Zufall? Oder vielleicht nur das Sommerloch mit einem Mangel an innovativen Bauprojekten, über die es zu berichten lohnte. Sind die publizierten Architekturprojekte in den afrikanischen Städten und Siedlungen tatsächlich sinnvoll?

Afrika: die Urbanisierung überholt das Bauen

Die Probleme, die sich durch die meist unterschätzte, massive Zuwanderung in die afrikanischen Städte ergeben, sind in der Tat gewaltig. Wenn man die Bevölkerungszahlen von Europa und den USA addiert, erhält man eine Zahl, die nur geringfügig die Population in Chinas Städten übersteigt. Und wenn wir einer aktuellen Studie glauben wollen, über die der „Guardian” am 18. September berichtet hat, dann ist „Subsahara-Afrika die am schnellsten wachsende Region der Welt, deren Bevölkerung von gegenwärtig 1 Milliarde bis 2100 auf 3,5 bis 5 Milliarden rasant ansteigen wird”. Geht man von einer Urbanisierungsrate von knapp über 50 Prozent aus, dann müssen sehr, sehr viele Wohnhäuser gebaut werden. Sollte man also den gleichen Weg gehen wie in China oder Singapur und in die Vertikale bauen und die Städte verdichten? Und die Hochhäuser vielleicht begrünen, damit sie schöner aussehen?

Die Lösungen, wie sie in den beiden Artikeln so stolz präsentiert werden, weichen dem Problem angesichts des massiven Bevölkerungsanstiegs in den Städten aus. Sie setzen vielmehr auf das Motto „Klein aber fein“, auf angepasste und teilweise erneuerbare Technologien, um bestehende ökologische und wirtschaftliche Probleme nicht noch zu verkomplizieren. Das ist löblich, doch angesichts der Tatsache, dass im Internetzeitalter heutzutage jeder auch ein Bild von Städten wie Las Vegas anklicken kann, dürfte diese Idee schwer zu verkaufen sein. Überdies muss geprüft werden, ob die Lösungen ganzheitlich beziehungsweise skalierbar sind, denn wenn sie klein bleiben, nutzen sie nur wenig.

Subsahara-Afrika ist die am schnellsten wachsende Region der Welt, deren Bevölkerung von gegenwärtig 1 Milliarde bis 2100 auf 3,5 bis 5 Milliarden rasant ansteigen wird.
Foto © Leopardi

Nach außen wachsen, nicht nach oben

Was der fachkundige Rezensent aus dem Westen jedoch nicht berücksichtigt, sind die schieren Dimensionen um die es hier geht. Eine durchschnittliche afrikanische Stadt wächst schnell in die Breite und nicht in die Höhe. Sie ist flach und verfügt im wahrsten Sinne des Wortes nicht über genügend Energie. Sie hat höchstwahrscheinlich mehr Einwohner als die meisten Städte in Deutschland. Die kommunale Regierung ist vermutlich finanzschwächer als Detroit. Dies hat für Architekten völlig neuartige Bedingungen zur Folge: Sie müssen architektonische Projekte ohne Klienten konzipieren. Oder vielmehr mit armen Klienten. Denn die hiesige Mittelklasse hat im Allgemeinen nur ein verfügbares Einkommen von 10 Dollar am Tag.

Ist klein wirklich fein?

Ein aufschlussreiches Beispiel für das Problem ist die kleine schwimmende Schule von Kunlé Adayemi in Lagos, die kürzlich überall in den höchsten Tönen gelobt wurde: Niklas Maak, der das Projekt als „soziale und ökologische Sensation“ bezeichnet, hebt den großen offenen Raum – er ist um die 100 Quadratmeter groß und angeblich der größte Raum dieser Art im Slum – hervor, der durch Sonnenkollektoren mit Strom versorgt und dessen Abwasser kompostiert und nicht in der Lagune entsorgt wird. Das Gebäude selbst besteht aus heimischem Bauholz, der offene Raum wird, wie die Fotos verraten, gerne als Marktplatz genutzt. Das Foto sieht toll aus, was es jedoch nicht offenbart ist der Kontext. Die schwimmende Schule befindet sich inmitten des Makoko Slums. Dort leben Hunderttausende von Menschen, vermutlich die Hälfte von ihnen ist unter 21 und somit im Schulalter. Wenn die Schule also eine Lösung darstellen soll, braucht es davon Hunderte. Überdies gibt es in Nigeria eine gravierende Lehrerknappheit. Hat man also schlichtweg eine Schule gebaut, in der es keinen Unterricht geben wird? Außerdem gibt es da dieses Problem mit dem lokalen Bauholz: Es wird in unzähligen giftig qualmenden Sägewerken hergestellt, die in unmittelbarer Nähe auf dem Wasser treiben und eine tödliche Gefahr für die Bevölkerung darstellen. Wenn man dieses Modell einer Schule also auf einen größeren Maßstab übertragen wollte, ist eine enorme Menge an Holz erforderlich. Das würde wiederum das ohnehin bereits schwerwiegende Problem der Abholzung in Nigeria verschärfen. Und nicht zuletzt würde durch die Regenzeit in Lagos das Holz schnell verrotten, das heißt, weitere Abholzungen wären unvermeidlich. So kann man keine nachhaltigen Schulen bauen.

Die Verwendung von lokalem Bauholz ist problematisch: Es wird in unzähligen giftig qualmenden Sägewerken hergestellt, die in unmittelbarer Nähe auf dem Wasser treiben und eine tödliche Gefahr für die Bevölkerung darstellen. Foto © Leopardi

Die verzweifelte Suche nach erschwinglichen Massenlösungen

Diese kleine Schule ist daher buchstäblich ein Tropfen in die Lagune. Es braucht vielmehr eine ganze Armada von Schulen und Lehrern, um etwas zu verändern. Und das wäre extrem teuer – und zwar nicht nur im Hinblick auf die Finanzmittel, sondern auch hinsichtlich des damit verbundenen ökologischen Fußabdrucks. Sonnenkollektoren scheinen auf den ersten Blick eine vielversprechende Lösung zu sein. Aber was würde das genau bedeuten? Bei sechs Solarmodulen pro Schüler wären 60.000 Stück für 100.000 Schüler notwendig. (Viele der nahezu insolventen deutschen Hersteller von Solaranlagen würden sich angesichts eines solchen Auftrags glücklich schätzen…bis sie herausfinden, dass niemand ihre Rechnung bezahlen kann.) Wird hier tatsächlich so viel Strom benötigt? Klimaanlagen sind jedenfalls in einer Region der Welt, in der eine natürliche Querbelüftung ausgesprochen gut funktioniert, doch eigentlich eine Energieverschwendung…
Grundsätzlich müssen wir uns also zunächst die Frage stellen: Wie praktikabel sind die kleinen Lösungen tatsächlich? Sicherlich sind sie massentauglich, wenn man statt großer und hoher Gebäude kleine Einheiten nach außen baut. Im Falle von Lagos hat Adayemi richtig erkannt, dass „nach außen“ hier nach draußen in die Lagune bedeutet (Der Nachdruck, mit dem der Westen das Bauen in die Höhe propagiert, wie dies im Fernen Osten geschehen ist, erklärt sich ausschließlich aus dem Raummangel und Immobilienpreisen). Aber eine Konzentration auf angepasste, kleine „Anwendungen“, wie der Schulbau bietet keine Lösung, die man einfach so multiplizieren kann.

Integrativ denken: niedrige Kosten, große Wirkung

Vielleicht braucht diese weniger entwickelte Welt weniger Architekten, die sich nur als Architekten verstehen und mehr Architekten, die mit Stadtplanern zusammenarbeiten und Nachhaltigkeit und Kosteneffizienz verbinden. Es gilt, billigen Wohnraum für jene zu schaffen, die niemals eine Hypothek abbezahlen können, aber vielleicht eine Mikrofinanzierung für einen kleinen Laden erhalten. Es müssten architektonische Einheiten konzipiert werden, aus denen Städte, aber keine Mega-Städte entstehen können – und zwar durch preiswerten Wohnungsbau mit einer Mischnutzung, um zu verhindern, dass täglich zwischen Wohnort und Arbeitsplatz gependelt werden muss (Die produktive Erwerbsbevölkerung von Lagos verbringt den halben Tag dösend im totalen Verkehrskollaps). Also billiger Wohnraum, für den keine Wälder abgeholzt werden müssen, gekoppelt mit billigen Formen der Stromerzeugung. Folglich braucht es kleine Lösungen in einer groß angelegten industriellen Umsetzung. Entscheidend ist die Verbindung aus Quantität und Qualität.

Daher kann man nicht mit Architekturbüros zusammenarbeiten, die auf Auftraggeber angewiesen sind, vielmehr sollte ein internationaler und sicherlich panafrikanischer, universitärer Dialog zu diesem Thema angestoßen werden. Wir könnten ihn „Afro-Funktionalismus“ nennen. Und da schriftliche Manifeste mittlerweile out sind, könnten wir für diesen Zweck eine Internetplattform schaffen. Dabei sollten wir uns die Heinrich-Böll-Stiftung als Vorbild nehmen, die im Rahmen ihres Projekts zur Verbesserung der Lebensqualität der Einwohner von Makoko auf einen integrativen Prozess setzt und unter der Leitung von Fabienne Hoelzel „Town-Hall-Meetings“ im kleinen Maßstab veranstaltet und so erfolgreich die Bedürfnisse der Menschen vor Ort erfragt hat. Architekten und Stadtplaner sollten wirklich nicht länger den Retter spielen, sondern eine „dienende“ Funktion einnehmen: Vielleicht wünschen sich die Einheimischen Trinkwasser viel dringender als Schulen.


Über den Autor: Dr. Jeremy Gaines ist ein in Frankfurt ansässiger Autor und Consultant. Seine Schwerpunktthemen sind nachhaltige Stadtentwicklung und erneuerbare Energien in Afrika. Gegenwärtig arbeitet Gaines an mehreren Projekten, bei denen der Fokus auf berufliche Bildung, infrastrukturelle Entwicklung und Klimawandel in Westafrika gerichtet ist. Überdies ist er Co-Lead eines Solarstromprojektes in Nigeria.

Die rezensierten Bücher sind dennoch überaus lesenswert: „Afritecture“ von Andreas Lepik & Simone Bader und „Expanding Architecture. Design as Activism“ von Bryan Bell & Katie Wakeford.