Ruinöse Verhältnisse
„Je weniger wir frei sind zu entscheiden, wer wir sind oder wie wir leben wollen, desto mehr versuchen wir, eine Fassade zu errichten, die Tatsachen zu verbergen und in Rollen zu schlüpfen.“
Im Athener Konservatorium. Ein großer, fensterloser Raum aus rauem Beton mit aufsteigenden Sitzreihen. Darin ein Lied und, in den leuchtenden Farben von Gewinn, Verlust und Stabilität, ein Laufband mit aktuellen Börsenkursen aus aller Welt. "The Way Earthly Things Are Going" hat der in Nigeria geborene Emeka Ogboh seine Arbeit genannt. In Archiven hat er nach Informationen zu diversen Finanzkrisen von 1929 bis heute gesucht, um diese dann von einem griechischen und einem Igbo-Komponisten vertonen zu lassen. Die Lieder erzählen von Menschen, die Kapitalmärkte scheren sich nicht darum. Den Gestus des "So-ist-es" löst Ogboh auf in einen nahen und zugleich fernen Ort melancholischer Imagination, an dem Bild und Klang miteinander verschmelzen. Einen Stock höher balanciert der heimatlose Kurde Hiwa K in "Pre-Image (Blind as the Mother Tongue)" auf der Stirn einen Stab, auf dem mehrere Spiegel befestigt sind, während er durchs Land läuft und erzählt, dass seine Füße niemals still stehen.
Die Documenta in Athen suchen
Athen, Ende April. Der Gesang, den der Chor aus Kuratoren und Künstlern zur Pressekonferenz angestimmt hat, ist verklungen, die Bühne längst wieder verlassen. Es herrscht Alltag, auch für die Documenta. Die Preview-Tage sind vorüber, der Medien-Tross ist abgereist, erste Kritiken sind geschrieben, Salut- oder Warnschüsse abgefeuert. Auch der Reise-Hof von Adam Szymczyk hat seine Sachen gepackt und ist weitergezogen; schließlich gilt es, Anfang Juni in Kassel den nächsten Coup vorzubereiten.
Wer sich dieser Tage auf die Reise in die angeblich so ferne Fremde der griechischen Hauptstadt begeben hat, die Adam Szymczyk, dem künstlerischen Leiter der 14. Ausgabe der Documenta derart exemplarisch erscheint, dass er die weltweit größte und noch immer wichtigste Kunstausstellung gegen alle bisherigen Üblichkeiten – sämtliche documenta-Ausstellungen seit 1955 haben, von einigen wenigen Plattformen, Außenstationen und Diskussionsrunden abgesehen, in Kassel stattgefunden – hier hat beginnen lassen, wird erst einmal alleingelassen. Vielleicht soll auf diese Weise das Fremdheitsgefühl geweckt werden, auf das es Szymczyk so sehr ankommt. Was allerdings schon deshalb nicht so recht klappt, weil die Athener erstens ungemein gastfreundlich und zweitens seit langem touristenerprobt sind.
Das auf der Website als Anlaufstelle angegebene Büro lässt sich mit Hilfe eines Stadtplans zwar finden, ist aber nichts als eine Klingel und eine Tür, die verschlossen bleibt. Macht nichts, denkt man sich – solche Großveranstaltungen haben immer organisatorische Anlaufschwierigkeiten. Zum Glück liegt das verlassene Büro nicht weit vom Archäologischen Nationalmuseum entfernt, wo sich, so war zu lesen, eine Documenta-Arbeit von Daniel Knorr befinden soll. Hinweise? Fehlanzeige. Dafür wird der Besucher des Museums anderweitig entschädigt. Aus dem ersten Saal leuchtet ihm sogleich jene Goldmaske entgegen, die der deutsche Archäologe und Troja-Ausgräber Heinrich Schliemann im Jahre 1876 in Mykene gefunden hat und die angeblich den sagenhaften König Agamemnon, einen der Helden des Trojanischen Krieges, darstellt. In den Sälen stößt man auf edle Koren und Kouroi, reich verzierte Vasen und Schalen, bis hin zu der beeindruckenden, überlebensgroßen Bronzestatue des Poseidon oder Zeus vom Kap Artemision, möglicherweise eine um 460 v. Chr. entstandene Arbeit des Bildhauers Kalamis. Hier herrscht die Antike, und deren Werke – Höhepunkte antiker Kunst – versetzen einen in Staunen ob ihrer Körperhaftigkeit und bildhauerischen Präzision.
Beim Rundgang durch dieses antike Parlament der Körper, Haltungen, Mythen und Götter- und Menschengeschichten, hatte man die Documenta schon fast wieder vergessen. Wo war sie denn nun? Zurück am Ausgang fragen wir noch einmal nach und bekommen einen Tipp. Und siehe da: Auf dem Weg ins Untergeschoss steht, zwischen Schildern, die auf Sonderausstellungen, das Café, den Museumsshop und die Toiletten des Museums hinweisen, ein kleines, aus rohen Spanplatten gezimmertes Hinweisschild. Im Untergeschoss muss man trotzdem noch eine Weile suchen, bis man am Rand des Innenhofs unter der Treppe eine kleine Vitrine entdeckt. Darin unter anderem ein amerikanischer Pass, ein aufgeschlagenes Buch, der Körper einer Puppe – alles Müll. Angeblich verarbeitet ihn Daniel Knorr zu Kunst. Zu sehen ist davon nichts. Erst später, im Konservatorium, wird man auf die Recycling-Installation stoßen, in der aus gefundenen Objekten Künstlerbücher gemacht werden. Die antiken Statuen würdigen Knorrs kleines Rohstofflager sowenig eines Blickes wie die Touristen, die das Museum besuchen.
Wo liegt Athen?
Athen liegt in der Gegenwart, zugleich aber in der Vergangenheit. Neben der Stadt hat die Documenta den Flüchtling zur exemplarischen Gestalt der Gegenwart erkoren, der auf der Suche nach einer neuen Heimat nicht selten eine Irrfahrt zu erdulden hat wie einst Odysseus. Einen "polytropus" hat Homer diesen genannt, einen Mann, der herumgeworfen wird auf zahlreichen Wegen und Umwegen, dem vielfältige Prüfungen auferlegt werden und der viele Rückschläge zu erdulden hat. Die Grundfrage der Odyssee, wie das Leben nach dem trojanischen Krieg aussehen kann, liegt nicht so weit entfernt wie man vermuten könnte von jenem Fragenkomplex nach einer Heimkehr in ein neues Leben jenseits kapitalistischer Kreisläufe, oktroyierter Schuldenkrisen und Finanzmanipulationen, der die aktuelle Documenta umtreibt.
Seltsamerweise kommt Odysseus nicht vor, obwohl der Vielgereiste doch jene Wendigkeit verkörpert, aus der ihm praktische Lösungen erwachsen. Das Mindeste, was man über das Gros der in Athen gezeigten Arbeiten sagen kann ist, dass es ihnen an jener Wendigkeit gebricht, die Odysseus auszeichnet. Der Wendige mag verzögert ans Ziel gelangen, er macht unterwegs weitreichende Erfahrungen. Und genau das vermisst man in der vielstimmigen Athener Künstler-Polis. Die eigene Zukunft wird nicht aktiv mit den aktuellen Mächten ausgehandelt.
Auch die unter dem Wort vom "Parlament der Körper" propagierte Rückkehr ins Verkörperte erweist sich – von den Performances im Beiprogramm bekommt der gewöhnliche Besucher nichts mit – als Illusion. Spaziert man beispielsweise zwischen den ausgegrabenen Grundmauern des antiken Lykeion herum, so trifft man dort auf die Klang-Installation von Postcommodity. An der Ausgrabungsstätte wurden Lautsprecher aus dem militärischen Bereich montiert, deren Verwendungszweck als Disziplinierungsmittel unterlaufen werde. Die Lautsprecher übertragen Geschichten, die von Vertreibung und der Notwendigkeit von Reisen handeln – manche gesungen, andere gesprochen, einige durch bloßes Schweigen. Erzählt werden sie aber allein von der technischen Apparatur. Selbst der Gesang, der plötzlich ertönt, und der doch dem Körper entsteigt und ihm eine eigene Würde verleiht, ist nur Konserve.
Die Klugheit des Odysseus blieb nie abstrakt. Hier aber wird im Falschen nach der wahren Empfindung und dem alles verändernden Gefühl gesucht. Statt Möglichkeiten zu erkunden, konkret von Problemen zu entlasten, predigt die D14 lieber eine einseitige Weltanschauung und blickt mit seelsorgerischer Bonhomie auf die Sorgenwelt der Menschen.
Im Nationalen Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST) werden Masken von Beau Dick gezeigt, dessen Name in der Kwakw’ala-Sprache "großer, mächtiger Wal" bedeutet, und dessen Masken in den Riten seines Volkes Lebewesen verkörpern. Hier ist Piotr Uklańskis Installation "The Greek Way" mit 32 Silbergelatineabzügen von Fotografien von Leni Riefenstahl zu sehen und Naeem Mohaiemens Video "Tripoli Cancelled" in Spielfilmlänge, das auf einer Erfahrung des Vaters des Künstlers basiert, der einst auf dem alten, von Eero Saarinnen gebauten, internationalen Flughafen Athen-Ellinikon festsaß.
Athen ist nicht Las Vegas
Von Athen lernen heißt etwas völlig anderes als von Las Vegas lernen. Als Robert Venturi 1972 gemeinsam mit seinen Büropartnern Denise Scott Brown und Steven Izenour "Learning from Las Vegas" vorlegte, wurde nicht nur klar, dass unter den durch das Automobil veränderten Wahrnehmungsbedingungen ein Reklameschild mit der Aufschrift "Casino" wichtiger ist als die gut gestaltete Fassade des Gebäudes. Von Las Vegas ließ sich auch etwas über den Geschmack des Kleinbürgers lernen, für den die Leuchtreklamen und die dazu passende Architektur die eigentliche aktuelle Architektur dargestellt. War die Fassade der Kathedrale von Amiens nicht ebenso eine einzige große Reklametafel wie die Straßenfront des Golden Nugget Casino? Lernen von Las Vegas bedeutete auch anzuerkennen, wie sehr High- und Low-Culture zusammenhängen, es offenbarte auch einen fundamentalen Wandel im Umgang mit der Geschichte.
Die Postmoderne hat ihre Schlüsse aus der Entbürgerlichung gezogen. "Von Athen lernen" bleibt dagegen nur ein provokativer Slogan. Was die weiter fortgeschrittene Kommerzialisierung der Stadt, ihres Bodens, ihrer Gebäude und Plätze, heute für die Wahrnehmung und damit auch für die Kunst bedeutet, steht nicht auf der Agenda der Documenta. Stattdessen erhebt sich Szymczyk zum Überkünstler und erklärt Athen kurzerhand zum exemplarischer Ort, von dessen geschundenem Körper sich der Zustand der Gegenwart ablesen lassen soll.
Desweiteren werden offen politische oder pseudo-politische Arbeiten gezeigt (die vielfach nicht mehr sind als dogmatischer Politkitsch), um daraus einen Chor zu formen, der vielstimmig Klage erhebt über den Zustand der Welt. Und es werden von den Rändern her jede Menge dem Anschein nach ursprüngliche, oft indigene und lokalen Identitäten entstammende Zeichen, Masken und Rituale als Formen ästhetischer und politischer Partizipation aufgeboten, um ein Gegengewicht zu der als fatal angesehenen Abstraktheit und Ungreifbarkeit der globalen Machtverhältnisse zu konstruieren. Man möchte sich dem Wirklichen zuwenden, ohne dabei in die Falle einer unmittelbaren Repräsentation zu gehen: Schweigen als Widerstand, Masken als Widerstand. Dass sich dazwischen auch einige wichtige historische Werke und Wiederentdeckungen finden lassen, macht die Sache nicht differenzierter.
Von Athen lernen?
Was die Stadt selbst angeht, so hätte man einen künstlerischen Blick womöglich ebenso gut auf Caracas oder Duisburg werfen können, um jene Wunden sichtbar werden zu lassen, die der globale Finanzkapitalismus dem gebauten und sozialen Körper geschlagen hat. Die Verlagerung oder Erweiterung der Documenta nach Athen hat trotzdem ihren Reiz, zumal man vor Ort tatsächlich wenig von all dem findet, was der griechischen Metropole, besonders in Deutschland, so alles angedichtet wurde – von Chaos und Arbeitslosigkeit bis zu notorischer Faulheit und aggressiver Kriminalität. Die Provokation indes, die mit dem Start in Athen verbunden sein soll, wirkt rasch schal, wird Athen doch, wenn nun auch von anderer Seite, abermals nur benutzt, um die eigene Perspektive auf die Welt zu bestätigen.
Gleichwohl macht der Ortswechsel, anders als das in Kassel je möglich gewesen wäre, die Notwendigkeit deutlich, den Süden, so pauschal das auch klingt, tatsächlich als eine Bewusstseinshaltung anderer Art zu begreifen. Nur so lassen sich Enttäuschung und Wut ermessen und ernst nehmen, die sich hier zu Recht angestaut haben und dem gebetsmühlenhaft vorgetragenen konservativen Mantra von Griechenland als dem Geburtsort der Demokratie Hohn sprechen. Der Fehler der Documenta liegt nicht darin, dass sie ihren Anfang in Athen nimmt, sondern dass sie ihr eigenes Credo "Von Athen lernen" nicht ernst genug nimmt.
Der Blick in die Zukunft fällt in Athen einfach anders aus. Selbst in der Innenstadt, gleich neben den Showrooms und Flagship-Stores der globalen Marken, stehen zahlreiche Gebäude leer; Graffiti ist oft der einzige Bauschmuck, und nicht nur rund um die Akropolis dominieren die Ruinen. Wenn Aristide Antonas, Professor für Architekturdesign und -theorie an der Universität Thessalien und einer der Künstler der D14, feststellt, in Athen kristallisierten sich "zeitgleich die Theorie der westlichen Vorherrschaft, die Desillusionierung des Idealismus, das Ende des Logozentrismus, die Dekonstruktion und – als Kulminationspunkt der jüngsten Athener Geschichte(n) – die postdemokratische Konstruktion des Hegemonialen und damit die Brutalität, mit der das Subalterne als Normalität oder Unausweichlichkeit menschlichen Daseins akzeptiert wird" (in: South as a state of mind, Documenta Issue #1), so greift er zwar flott in diverse Theoriekisten, trifft aber einen wunden Punkt. Einen Grund für das rigide und brutale Auftreten der Vorherrschaft glaubt er aus der Absage an die (wenn auch idealisierte) griechische Antike ableiten zu können, verberge sich dahinter doch die Erkenntnis, die Gegenwart erscheine in dem Maße als unausweichlich, wie das Potenzial geschwunden sei, alternative Zukunftsszenarien zu entwerfen. Dementsprechend stellt sich ihm "die eingestürzte Materialität der Stadt als ein wirres, nicht entzifferbares Rätsel dar", in dessen "Materialität" wir eine Art Prophezeiung lesen, "die vom niederschmetternden, aber dennoch heroischen Fall Europas kündet."
In den Innenhof des Benaki Museums an der Pireos-Straße hat Hiwa K sein "One Room Apartment" gestellt, nicht mehr als ein Treppe, die zu einem Bett führt, das ungeschützt in der Leere schwebt. Hier werden die zwischen Realismus und Magie schwankenden Kohlezeichnungen von Miriam Kahn ebenso präsentiert wie Nilima Sheikhs narrative Malerei, die mittels figurativen Darstellungsformen wie Miniatur- und Tuchmalerei, Volksmärchen und Motiven aus illustrierte Handbücher aus der Kolonialzeit eine Kartografie aus Schmerz, Leid und Gewalt entwirft, die das Kaschmirtal und seine Menschen beherrscht.
Von Athen lernen
Die Diskrepanz zwischen dem kritischem Anspruch und den gezeigten Werken ist eklatant. Was am Beispiel Athen demonstriert werden soll, findet in der Kunst nur plakativ einen Widerhall. Künstlerische Qualität, das hatte Adam Szymcyk schon früh bekannt, ist für ihn keine Kategorie. Ihm geht es eher darum, die Dominanz des Visuellen zu brechen. Schon deshalb ist die D14 an der Kunst in der Kunst nicht länger interessiert. Der Wunsch, partout politisch sein zu wollen, endet dann oft genug beim Gutgemeinten. Arbeiten, die wie einst Beuys’ "7000 Eichen" Kassel langfristig verändert haben und mit künstlerischen Mitteln einen Wechsel der Perspektive zu bewirken trachten, sucht man vergebens. So entsteht aus dem Anspruch, aufzuzeigen, was generell falsch läuft, eine nebulöse politische Verschwommenheit, in der Kunst zur Anklage, zur sentimentalen Geschichte und zum individuellen Kommentar schrumpft. Statt Krise als Form zu begreifen, wird sie im Parlament der Meinungen zum ohnmächtigen Einspruch gegen eine imperfekte Welt. Auch scheint es, als provoziere Adam Szymcyk bewusst einen radikalen Bruch mit der bisherigen Geschichte der Documenta. Womit er selbst vollzieht, was er der Gegenwart vorhält: Die eigenen Wurzeln und die eigene Geschichte zu vergessen und sich einer schwer greifbaren und scheinbar unangreifbaren Hegemonie zu unterwerfen.