Ungerade, bitte
Wenn Architekturbüros mit dicken Büchern auf das eigene Werk zurückblicken, dann kommt dabei allzu oft nur eine gut gemachte Werbebroschüre heraus. Ohne Ecken und Kanten und ohne Zweifel sowieso erscheint die Karriere von Anfang an als gerade Linie aufwärts. Alle ausgewählten Projekte präsentieren sich von ihrer Schokoladenseite, und meist schreibt ein/e renommierte/r KritikerIn noch eine gut gelaunte Einordnung über die Bedeutung des Büros für die zeitgenössische Architektur. Das Buch "Caruso St John: Collected Works Volume 1, 1990-2005" geht einen anderen Weg. Gleich zu Beginn wird klar, dass die beiden Briten hier lustvoll mit allen Stilmitteln einer konventionellen Büromonografie brechen. Zwar ist auch dieses Buch von bemerkenswerter Dicke: 424 Seiten sind wirklich kein Pappenstiel, zumal es ja "nur" um die ersten 15 Jahre des Büros geht, das mittlerweile zu den wichtigsten britischen Büros gezählt wird. Jedoch machen Caruso und St John keinerlei Versuch, dem eigenen Werk rückblickend irgendeine Form von Geradlinigkeit zu verpassen. So schreiben sie es auch direkt auf der ersten Seite ihres angenehm kurzen, ungewöhnlich präzisen Vorworts: Dieses Buch enthalte "nur eine von vielen verschiedenen Versionen", wie die eigene Geschichte erzählt werden könne. Man wolle die "Unsicherheit und Vieldeutigkeit, die jeder architektonischen Praxis zugrunde liege, nicht beschönigen" und wolle daher lieber der Versuchung widerstehen, das Material allzu geordnet zu präsentieren.
So beginnt das Buch auch nicht mit einem geschliffenen Essay, sondern mit dem Protokoll eines Vortrags, den Caruso und St John 1998 an der Architectural Association in London hielten – inklusive der anschließenden Publikumsfragen. Im Text nähern sich die Architekten dem eigenen Schaffen dialogisch, zögernd und mit Zweifeln, welche Referenzen und Gedanken die Entwürfe geformt hätten und wie sehr sie theoretische Schriften, etwa Robert Venturis "Komplexität und Widerspruch in der Architektur" beschäftigt hätten. Der angenehm plaudernde Tonfall, stilistisch locker und mit trockenem Humor gewürzt, zieht sich durchs ganze Buch. In den knappen Projekttexten findet sich fast immer auch die Geschichte wieder, wie man die Aufträge überhaupt bekommen hatte und wie die Wünsche und Forderungen der BauherrInnen diese mitformten.
Zu diesem persönlichen und offenen Tonfall passt die gute Idee, keine neuen Texte für das Buch schreiben zu lassen, sondern lieber jene Texte zu sammeln, die zur jeweiligen Zeit über das Büro und seine Arbeiten geschrieben wurden. Da versuchte zum Beispiel der wunderbare Autor Irénée Scalbert schon 1995 in seinem fulminanten Text "Am Rande des Gewöhnlichen", [RS1] die frühen Arbeiten des Büros in der britischen Architekturszene einzuordnen. Schon früh positionierten sich Caruso St John mit ihren kleinen, bescheidenen Werken zwischen den beiden damals vorherrschenden Polen, ließen sich weder der High-Tech-Architektur um Richard Rogers oder Norman Foster zuordnen noch den wilden Dekonstruktivisten um Zaha Hadid und Will Alsop. Caruso und St John interessierten sich für das Bestehende, das Raue und Unfertige, ließen sich von der zeitgenössischen Kunst ebenso inspirieren wie von einfachen Scheunen oder vielfach umgebauten Stadthäusern. Diese Themen sind in einigen der frühen Arbeiten besonders unverfälscht zu erkennen, beim Bau einer Arztpraxis mit Wohnhaus auf dem Land bei Hersham etwa, beim Umbau einer Scheune zum Wohnhaus eines jungen Paares oder beim Bau von Peter St Johns eigenem Wohnhaus, das er aus einem einfachen alten Lagerhaus im Norden Londons entwickelte. Dieses baute er in der wirtschaftlichen Rezession Englands damals größtenteils selbst und mit der Hilfe von Freunden und Verwandten. Es sind pragmatische Bauten, die mit günstigen und robusten Materialien große, dauerhaft flexible Räume schaffen, die oft mit übergroßen Fenstern nach draußen schauen und so eine überraschende räumliche Großzügigkeit schaffen. Unfertigkeiten, Widersprüche und Komplexitäten halten diese Räume ganz wunderbar aus.
Die Beschäftigung mit dem Vorhandenen ist ein zentrales Grundthema in allen Arbeiten von Caruso St John. Da wundert es auch nur auf den ersten Blick, dass sich im Buch auch ein ausführliches Gespräch zwischen Hans Kollhoff und Wim Wenders findet. Über volle 15 Seiten hinweg unterhalten sich der Architekt und der Filmemacher über ihre Sicht auf die Städte im Allgemeinen und West-Berlin im Besonderen, über ihren Umgang mit den Kanten und Brüchen einer immer wieder umgebauten und intensiv benutzten Stadtlandschaft. Da fragt man sich zu Beginn schon, was das mit dem Werk von Caruso St John zu tun hat – zumal das Gespräch 1988, also noch zwei Jahre vor der Gründung des Büros stattfand. Im Verlauf der Lektüre wird aber zunehmend klarer, wie stark dieses Thema alle Entwürfe und die Grundhaltung des Büros durchdringt, bei denen die Umbauten wie die Neubauten stets den Eindruck etwas über längere Zeit Gewachsenen machen. So sagt Peter St John an anderer Stelle im Buch: "Egal, wie aussichtslos das Vorgefundene auch erscheinen mag: Einen uninteressanten Ort gibt es nicht. Man fügt einfach etwas hinzu. Ich finde es immer schwierig, Abriss zu rechtfertigen." Damit beweist das Büro einen enormen Weitblick auf die Themen, die erst heute in der Breite des Architekturdiskurs angekommen sind.
Ein zweites Beispiel dafür, wie grundlegende Themen der Entwürfe in diesem Buch aufgenommen werden, ist die Beschäftigung mit dem schwedischen Altmeister Sigurd Lewerentz. Dem ist gleich ein ganzes Kapitel gewidmet. Darin erzählt ein wunderbarer, ebenfalls sehr ausgiebiger Essay von Claes Caldenby von dem "Einsamen Nordländer" und seiner eigensinnigen, handwerklich hervorragenden und räumlich poetischen Architektur. Erst danach beschreibt Adam Caruso, wie er im Büro von Florian Beigel in einer Ausgabe des katalanischen Architekturmagazins "Quaderns" die Arbeiten von Lewerentz fand und wie sehr ihn der unglaubliche Detail-Reichtum dieser Gebäude beeinflusst hat. Ebenso ist nachzulesen, wie aus dieser Beschäftigung mit Reisen nach Schweden langsam Kontakte entstanden, die zu einer erfolgreichen Wettbewerbsteilnahme für die Gestaltung eines großen, öffentlichen Platzes im schwedischen Stortorget führten. Knapp und präzise beschreiben Caruso St John, wie diese Platzgestaltung mit Lewerentz zusammenhängt – um von dort rasch zu einem ihrer bekanntesten eigenen Werke überzugehen: Dem brillant verformten "Brick House" in London aus Beton und Backstein, dessen Fugenbild, wie wir aus dem Buch nun wissen, extrem stark an Lewerentz erinnert – so wie man allerdings auch eine starke Verbindungslinie zu Peter und Alison Smithson nachweisen könnte. Die Story könnte eben auch wieder anders erzählt werden.
So spannt dieses Buch im lockeren Plauderton mühelos ein gewaltiges Netzwerk an Verbindungen auf, die sich wie Fäden zwischen Projekten, Themen, Texten und Gedanken entwickeln. Das ist nicht ein roter Faden, sondern viele, die sich zu einem komplexen Spinnennetz entwickeln, dem man während des Lesens beim Wachsen zuschauen kann. Letztlich ist den Architekten das Meisterstück gelungen, ein Buch zu entwickeln, das genau wie die Architektur von Caruso St John funktioniert: Als vielschichtiges Gewebe, das aus alten und neuen Bestandteilen etwas formt, das größer ist als seine Teile – und dabei das Ganze noch mit Humor zu nehmen weiß. Man wünscht sich schnell noch viel mehr so ungerade Büros.
Caruso St John
Collected Works: Volume 1 1990-2005
Embossed linen hardcover
22 x 26 cm, 416 pages
ISBN 978-1-913620-76-9
75 Euro
Tipp: Der Nachfolgeband Collected Works: Volume 2 2000–2012 kann bereits vorbestellt werden und soll im August 2023 erscheinen.