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Ach, würden wir doch durch ebenhölzerne Pfauentore in floral geschmückte, elegante Hochhauspaläste treten
von Richter Claus | 23.07.2012
„Jugendstil“ von Norbert Wolf, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark

Ich habe kürzlich die ersten zwanzig Ausgaben der 1896 lancierten Zeitschrift „Jugend“ gelesen, die dank der heutigen Technologie bequem im Internet einsehbar ist, denn immerhin stammt die deutsche Bezeichnung für das, was man andernorts „Art Nouveau“ oder „Modern Stile“ nennt von dieser programmatischen Künstlerzeitung ab. Fast jeder hat eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung vom Jugendstil: florale Formen, flächiges wunderschönes Ornament, elegante Opulenz. Es ist ja bereits alles tausend und einmal gesagt, über gescheiterte Utopien, die Vermischung von Kunst und angewandter Gestaltung, über das Gesamtkunstwerk – wir wissen es. Und so war die Lektüre der „Jugend“ wirklich eine erfrischende Erfahrung, denn hier wurde plötzlich der Anfang, die Begeisterung und Offenheit der Akteure spürbar.

Gleich zu Beginn wird in der „Jugend“ zur Einreichung von Illustrationen und Texten aufgerufen, es gibt Wettbewerbe und in jeder Ausgabe eine Art doppelseitiges „Poster“ in der Mitte des Heftes. Die „Jugend“ erscheint mir aus der Distanz wie ein sogenanntes „Fanzine“, eine bunt zusammengewürfelte Künstlerzeitung, die ganz zu Beginn irgendwie vermittelt, wo sie nicht hin will, und dadurch woanders hingelangt. Nämlich zum Namensgeber eines ganzen Stils. Es wird in der „Jugend“ viel über die damals neue Röntgenstrahlung gewitzelt, Frauen auf Fahrrädern sind auch Grund zum Amüsement und es gibt viele kleine Boshaftigkeiten in Richtung Establishment, so zum Beispiel einen Bericht über eine Kunstakademie auf dem Mars, in der alles noch so läuft, wie die akademischen Herrschaften sich das wünschen. Auf der Rückseite dann findet der Leser Anzeigen für Künstlerbedarf, wildromantische Hotels in der Schweiz und immer wieder auch für „Dr. Hommels Haematogen“, ein damals unheimlich gehyptes Stärkungsmittel aus Rinderblut, das angeblich gegen Bleichsucht, Blutarmut, Schwäche, Rachitis und unzählige andere unangenehme Dinge hilft.

Irgendwann, auch das ist bekannt, passte sich die „Jugend“ dem aufkommenden nationalistischen Geist an – und da hört das Verständnis auf. Und doch funktionierten die ersten Ausgaben dieser Zeitschrift für mich wie ein Schlüssel zu einer alten, eigentlich längst abgeschlossenen, wundervollen Truhe. Ich liebe den Jugendstil, überhaupt die Jahrhundertwende, eine kulturell so reiche und aufregende Zeit, und so betrauere ich, dass nur so wenig davon in unsere heutige Architektur und ins „moderne“ Design übernommen wurde.

Die Schlichtheit, der Verzicht auf Ornament und die betont sachliche Funktionalität haben offenkundig gewonnen. Adolf Loos und Le Corbusier sind die Gründungsväter der großen Klötze und Kartons, in denen heute Menschen vor kleinen Klötzen und Kartons sitzen und noch mehr Klötze und Kartons entwerfen. Inzwischen sind diese Riesen-Arbeitsplatzkisten natürlich aus Glas, es gibt keinen Ort des Rückzugs mehr, kein Ornament erzählt etwas, kein Blick bleibt hängen, man funktioniert in einer Funktionsarchitektur. Oft stelle ich mir vor, wie eine moderne Welt aussähe, in der die Architekten, Designer und Künstler des Jugendstils die Helden heutiger Architekten und Designer wären. Es wäre magisch! Man würde durch große ebenhölzerne Pfauentore in floral geschmückte, elegante Hochhauspaläste treten, mit vogelförmigen Einschienenbahnen durch steinerne Palmenwälder fahren und in schimmernden buntverglasten Höhlen-Shoppingmalls einkaufen.

Der Knackpunkt des Jugendstils ist sicher, dass viele seiner Entwürfe so fantastisch, so bildgewaltig, esoterisch und damit auch so dominant sind, dass sie wenig Platz für anderes lassen. Es ist ein radikaler, schwärmerischer Stil, ein Bruch, so war es ja auch gedacht. Und doch reise zumindest ich immer wieder gerne wenigstens in Gedanken in eine imaginäre Welt, in der Hector Guimard, Alfons Mucha, Joseph Maria Olbrich, Gustav Klimt, Fernand Khnopff, Aubrey Beardsley und James Abbot McNeill Whistler jedes Haus, jeden Türknauf, jedes Auto und jedes technische Gerät entworfen haben. Diese Vorstellung ist so ein reiches Fest, so ein eleganter und opulenter Genuss, dass das Erwachen in unserer Kastenwelt gerne auf später verschoben wird.

Nur in einer einzigen modernen Domäne werden die utopischen Welten des Jugendstils heute noch regelmäßig zitiert: Im Fantasyfilm aus Hollywood. Wer sich „Der Herr der Ringe“ anschaut, betritt mit Frodo dem Hobbit nach einigen düsteren Wendungen das lichte Reich der Elben, von geschulten Set-Designern aus unzähligen Versatzstücken des Jugendstils konstruiert. In vielen fantastischen Filmen entspringen die Welten der „Guten“, der reinen Seelen und sanften Helfer den Vorlagen der Jugendstil-Künstler des letzten Jahrhunderts. Da steckt er heute, der Jugendstil, in der Welt der Kino-Feen und Elfen, gebaut um gefilmt zu werden, bevölkert von fiktiven Wesen, die zumeist ebenfalls der Literatur der Jahrhundertwende entsprungen sind. Also ist er doch noch da, in unseren Träumen von Arkadien, in Märchenbüchern und Fantasyfilmen, und das ist ja auch eine Realität, und vielleicht wacht ja eines Tages jemand auf und spricht: So will ich’s bauen. Nur zu! Auf geht's!

Damit dabei aber nicht noch einmal gut gemeinter Kitsch á la Hundertwasser herauskommt, empfiehlt es sich, freudvoll von der sehr viel radikaleren Eleganz und Schönheit der alten Helden zu lernen, so zum Beispiel im kürzlich erschienen Prachtband „Jugendstil“ von Norbert Wolf. Im Großformat und auf knapp dreihundert Seiten wird hier noch einmal gezeigt, wie es war, und wie es von mir aus auch heute noch sein könnte. Es ist ein Vergnügen!

Jugendstil
Von Norbert Wolf
Hardcover, 304 Seiten, deutsch
Prestel, München, 2011
59 Euro
www.randomhouse.de

„Jugendstil“ von Norbert Wolf, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Das Buch beginnt mit floralen Ornamenten, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Einheitsvisionen und Spiritualisierungen, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Opulentes, mit floralen Formen verziertes Schmuckstück, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Abbild des schönen Geschlechts, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Die aufwändig verzierte Villa Ruggeri von Giuseppe Brega wurde 1907 fertiggestellt und liegt im italienischen Pesaro, Foto © Prestel
Der kunstvolle Eingang der Métro Station Porte Dauphine in Paris wurde um 1900 von Hector Guimard gestaltet, Foto © Prestel
Das Wiener Secessionsgebäude in der Friedrichstrasse 12 wurde von Joseph Maria Olbrich entworfen und im Jahr 1898 eingeweiht, Foto © Prestel
Das Hill House im schottischen Helensburgh entstand zwischen 1902 und 1903 und gilt als eines der wichtigsten Kreationen des schottischen Architekten Charles Rennie Mackintosh. Hier sieht man die Innenansicht eines Esszimmers, Foto © Prestel
Victor Horta baute 1893 das Hotel Tassel in Brüssel, dessen imposante Eingangshalle mit Jugendstil Ornamenten verziert wurde, Foto © Prestel
Im Jahr 1903 entwickelte der Österreicher Koloman Moser diesen kusbusförmigen Armlehnstuhl aus Buchenholz, Foto © Prestel
Dieses Gästezimmer befindet sich im 1919 errichteten „78 Derngate“ Haus in Northampton und ist ein Entwurf des Jugendstil Pioniers Charles Rennie Mackintosh, Foto © Prestel