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Skulptur als spaßige Aktion, die sofort in die digitalen Netze eingespeist wird: Eine der partizipatorischen "One Minute Sculptures" von Erwin Wurm im Pavillon Österreichs.

Stillstehen und über das Mittelmeer schauen

Hier und da macht Mitmachen Spaß, hat aber seinen Preis. Die Ausstellung "Viva Arte Viva" sortiert die Kunst nach Begriffen und beschwört Ursprungskräfte. Beobachtungen auf der 57. Kunst-Biennale von Venedig.
von Thomas Wagner | 22.05.2017

I. Erwin Wurm oder Ein bisschen Spaß muss sein

Erwin Wurm, der neben Brigitte Kowanz den Pavillon Österreichs bespielt, ist ein Meister der Manipulation. Er hält den Besuchern ein Stöckchen in Form einer Anweisung hin, und schon machen sie mit und sich selbst zum Affen, hängen den Hintern aus einem Loch in einem Wohnwagen oder klettern auf eine Küchenspüle, um sich den Umstehenden wie eine lebende Skulptur zu präsentieren. Sicher, ein bisschen Spaß muss sein. Wurms erfolgreiche "One Minute Sculptures" offenbaren in der Form, die er für die Partizipation des Publikums gefunden hat, aber auch, wie sehr das Bedürfnis gewachsen ist, selbst mitzumachen, um sich selbst in Szene zu setzen – und das per Handy geschossene Bild oder Video sogleich in die entsprechenden elektronischen Netzwerke einzuspeisen. Partizipation als nettes Spiel der Selbstdarstellung, das ohne Anstrengung gelingt – so funktioniert heute Kunst für Alle.  

Vor dem Pavillon hat Wurm einen Kleinlaster hochkant gestellt und in eine Aussichtsplattform verwandelt. Ist man durch den Laderaum gestiegen und oben angekommen, erwartet einen die Anweisung: "Stillstehen und über das Mittelmeer schauen". Genau genommen sieht man nur die Lagune, der Satz taugt aber durchaus als Motto für vieles, was noch bis November in Venedig als aktuelle Kunst vorgeführt wird. Dabei erweist sich – wie üblich zerfällt die Kunst-Biennale auch diesmal in die von diversen Kuratoren und Kuratorinnen, Künstlern und Künstlerinnen bespielten Nationenpavillons in den Giardini und in der Stadt und in die zentrale Ausstellung in den Arsenalen und im Padiglione Centrale – die Schau "Viva Arte Viva" als das größere Problem. Allzu lebendig präsentiert sich die aktuelle Kunst darin nicht.

Lernen, was der Großkünstler vorgegeben hat: Ólafur Elíasson lädt die Besucher ein, gemeinsam mit Flüchtlingen und Asylbewerbern von ihm gestaltete Lampen zusammenzubauen.
Tanzen als Gemeinschaftserlebnis: Still aus Anna Halprins "Planetary Dance".

II. Christine Macel und die Begriffe

Es gibt auf dieser Biennale durchaus gelungene Arbeiten zu sehen ­– auch in der zentralen Schau. Nicht selten aber handelt es sich dabei um mehr oder weniger historische Positionen. Dass der 1939 geborene Franz Erhard Walter als bester Künstler von "Viva Arte Viva" mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, spricht Bände – und belegt, wie unübersichtlich die Lage und wie greifbar die Unsicherheit geworden ist. Ist es nur Nostalgie, wenn man – um ein anderes Beispiel zu erwähnen – in einem Raum im Padiglione Centrale, der allein Arbeiten des Ironikers und Mitbegründers der Nouveaux Réalistes Raymond Hains präsentiert, plötzlich aufatmet, weil, was hier zu sehen ist, in seiner Form konsequent, vielschichtig, reflektiert, ironisch raffiniert und verspielt auftritt? Oder verweist die Reaktion nicht vielmehr darauf, wie beliebig die Maßstäbe gehandhabt werden und wie instabil und fraglich die Kategorien geworden sind, nach denen Kunst bislang produziert und rezipiert wurde? Hier kann man zwar nicht einfach mitmachen, man erfährt aber viel darüber, wie wir die Welt wahrnehmen und wie in der Welt der Kunst agiert wird.

Und was macht Christine Macel, die für die zentrale Ausstellung verantwortlich ist, in der auch diese Werke gezeigt werden? Statt eine Spannung zwischen solchen und ganz anders gearteten Arbeiten aufzubauen und der Frage nachzugehen, was sich gesellschaftlich, medial, künstlerisch in den letzten Jahren verändert hat, sortiert sie die Kunst nach Begriffen in Abteilungen ein, die sie ebenfalls Pavillons nennt und degradiert sie damit zu Illustrationen und Belegstücken ihres gelinde gesagt zweifelhaften Kunstverständnisses. Den Auftakt macht der "Pavillon of Artists and Books", in dem Ólafur Elíasson die Besucher einlädt, gemeinsam mit Flüchtlingen und Asylbewerbern von ihm gestaltete Lampen zusammenzubauen, deren Verkaufserlös an die Caritas gehen soll. Bezahlt werden die Flüchtlinge nicht, dafür gibt es kostenlose Sprachkurse. Vielleicht lernen sie als Arbeiter für einen weltweit agierenden Großkünstler auch, wie die Hierarchien in der Kunst verteilt sind und wie das Gutgemeinte ins zynisch Ausbeuterische umkippt.

Auch wo es um "Joys and Fears" gehen soll, opfert Macel die Kunst ihrer Sortierung. Und vollends in den Hallen des Arsenale, wo die Pavillons die Gemeinschaft (Pavillon of the Common), die Erde (Pavillon of the Earth), Traditionen (Pavillon of Traditions), Schamanen (Pavillon of Shamans), Dionysien (Dionysian Pavillon), Farben (Pavillon of Colors) sowie Zeit und Unendlichkeit (Pavillon of Time and Infinity) beschwören, bleibt die Schau weit hinter ihren Möglichkeiten zurück und verliert sich ein ums andere Mal in harmlos-abstrakten Weltverbesserungsfantasien.

Der Körper tritt auf und wird sofort digital fragmentiert: Szene aus Anne Imhofs "Faust" im deutschen Pavillon.

III. Faust oder Der Körper und die Medien

Die Frage ist nicht, ob sich das Verhältnis zu den Dingen durch die vernetzte digitale Kommunikation generell verändert, bislang gültige und weitgehend stabile gesellschaftliche Verabredungen ins Wanken kommen und in der Kunst andere Wahrnehmungsformen des Realen entstehen. Die Frage ist, wie die Kunst darauf reagiert, wie sie damit umgeht, vor allem, ob sie Einbrüche und Aufbrüche nicht nur zu beschwören, die Kräfte eines Neuanfangs nicht nur anzurufen, sondern tatsächlich zur Entfaltung zu bringen vermag. Ist es nicht ein seltsames Zeichen, wenn der Kurator eines großen Museums beklagt, während sich die Ereignisse draußen in der Welt überschlügen, die zentrale Schau der Biennale wirke wie eine von Eingeborenen besiedelte Insel?

Das Paradoxe ist: Auch in Venedig behaupten viele Künstler, was sie zeigen, sei politisch, widerständig und reflektiere aktuelle Machtverhältnisse. Schaut man genauer hin, wird das nur abstrakt behauptet, findet aber selten zu einer Form, die es zuallererst gültig, anrührend, wahrhaftig macht und sich von einem bebilderten journalistischem Hinweis auf ein vorgeblich wichtiges Thema unterscheidet. Zu oft wird moralisiert und auf simple ästhetische Effekte vertraut. Gute Absichten werden nur illustriert. Sich an den Händen zu fassen und auf Mythen und Schamanen zu vertrauen, revitalisiert weder irgendeinen Ursprung noch taugt Wollenes, Besticktes und Getöpfertes per se als Elixier einer zeitgenössischen Form von Widerstand.

Selbst der Körper, vielfach geschunden oder wahlweise effizient optimiert, geht in den Zirkulationsprozessen der Medien unter und wird fragmentiert. Man mag von der martialischen, den Terror der Transparenz und die Verlorenheit darin agierender Körper vergegenwärtigenden Inszenierung "Faust", für die Anne Imhof und der deutsche Pavillon mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurden, halten, was man will. Wer während der Eröffnungstage versucht hat, sich die Performance anzusehen, die im Ganzen rund fünf Stunden dauern soll, der sah aufgrund der Überfülle vor Ort nicht nur fast nichts, er sah, was er überhaupt sah, vor allem auf den Bildschirmen der rundum gezückten Smartphones. Eine Position, von der aus der reale Betrachter ein Stück als Ganzes wahrnehmen und beurteilen könnte, ist offenbar nicht länger vorgesehen. An ihre Stelle sind Schnipsel, Teile und Fragmente getreten, die ohne Verzögerung über die elektronischen Netzwerke verbreitet werden. Sogar die Anweisungen, was die Performer als nächstes zu tun haben, werden ihnen von der Künstlerin per SMS übermittelt. All das, nicht die Kunst als Kunst, garantiert heute den Erfolg.

Wer wollte das nicht? – Lichtinstallation von Gyula Várnai im Pavillon Ungarns.
Wer die Aussichtsplattform auf Erwin Wurms vor dem österreichischen Pavillon hochkant gestelltem LKW erklommen hat, wird angewiesen: Stillstehen und über das Mittelmeer schauen.