Moment mal, Regenschirme an der Decke? In Greifnähe? Ein Wunder, dass die noch keiner geklaut hat. Es ist ja noch nicht lange her, da regnete es seit Tagen, unaufhörlich. Was den Regenschirm immerhin zum begehrtesten Utensil des Frühjahrs 2013 in Bayern gemacht haben dürfte – neben Gummistiefeln und Sandsäcken. Im Augsburger Textil- und Industriemuseum erfährt der Besucher nun mehr über die historische Bedeutung des Schirms und anderer Textilien, wie sie in der Architektur Verwendung finden.
Der tragbare Schirm, so heißt es im Begleittext zur Ausstellung, „unterstrich lange Zeit die herrschaftliche Würde einer bedeutenden Person, zum Beispiel von religiösen Führern oder Königen“. Heute ist diese Bedeutung fast gänzlich verloren gegangen, der Schirm ist zum nützlichen Alltagsgegenstand geworden, das wissen wir nur zu gut. Neben der mobilen Variante werden auch ortsfeste Schirmkonstruktionen gezeigt, wie etwa die Großschirme im „Shanghai International Circuit“, die 2004 entworfen wurden und eindrücklich zeigen, welche Größenordnung textile Materialien in der Architektur einnehmen können. Das klingt alles recht ordentlich didaktisch aufbereitet, vielleicht sogar ein wenig harmlos? Ach was, wenn uns draußen die Klimaveränderung zur Verzweiflung treibt, dann tut es ganz gut, wenn wenigstens drinnen alles seine Ordnung hat.
Fünf Räume, fünf Themen
Vom Tempelvorhang der Antike bis in unsere Gegenwart spannt sich in der Schau der Bogen „textiler Architektur“. Die Ausstellung basiert auf der Grundlage des von Sylvie Krüger 2009 im Jovis Verlag herausgebrachten gleichnamigen Buchs. Krüger hat die Ausstellung nicht nur kuratiert, sondern auch zusammen mit dem Architekten Andreas Ferstl (Muck Petzet Architekten) die – was sonst? – textile Ausstellungsgestaltung entworfen und umgesetzt.
Fünf Begriffe hat die Kuratorin ausgewählt, um den Ausstellungsparcour in fließend ineinander übergehende Räume zu unterteilen: Neben dem eingangs erwähnten Segment „Schirm“ begegnet der Besucher den Themenblöcken „Vorhang“, „Dach“, „Zelt“ und „Luftblase“. Wo er mit dem Ausstellungsrundgang beginnen soll, ist nicht vorgegeben. Die Kuratorin Sylvie Krüger meint dazu: „Man kann einen Verlauf der Konstruktionsprinzipien von vertikal (Vorhang) über horizontal (Dach und Schirm) bis hin zu dreidimensional (Zelt und Luftblase) sehen. In dieser Steigerung folgen die Themenräume aufeinander.“
Das Textil- und Industriemuseum befindet sich im imposanten Gebäude der ehemaligen Kammgarn-Spinnerei im Textilviertel Augsburgs. Während man in den Räumen der Dauerausstellung im Erdgeschoß historische Webstühle und moderne High-Tech-Maschinen besichtigen kann, gelangt der Besucher im ersten Stock in die Welten der textilen Architektur. Weich und wallend begegnen dem Eintretenden die mit unterschiedlichsten Stoffen unterteilten Ausstellungsräume, die kleine Modelle, Filme und überwiegend Fotografien samt erklärenden Texten für ihn bereithalten. Ruhe spendende Rückzugsorte ermöglichen es, weitgehend unbeobachtet und geborgen in die Welt des Stoffs einzutauchen. Das Gefühl der Verlorenheit, das manche Ausstellungsräume in dieser Größenordnung verbreiten, taucht dabei nicht auf.
Himmelbett und Markise
Der Raum, in der der die Rubrik „Vorhang“ verhandelt wird, ist in Blau gehüllt. Er beschäftigt sich mit der Bedeutung von Raumteilern, die schon zu antiken Zeiten heilige und profane Bereiche voneinander trennten. Auch Außenvorhänge und Himmelbetten werden gezeigt. Wo es ums „Dach“ geht, beherrscht die Farbe Orange den Raum. Hier werden die Geschichte und der Einsatz von Markise, Sonnenschutz, Velum und Baldachin vorgeführt. Anstelle von Fotoprints und Modellen hätte sich der Besucher hier dann doch das eine oder andere „Original“ gewünscht. Zum Beispiel japanische, mit Reispapier bespannte Raumteiler, von denen Krüger in ihrem Buch berichtet. Oder wenigstens eine Markise zum Kurbeln, durch die die Sonne hindurch blinzelt.
In der Luftblase
Neben der Abteilung „Zelt“, dessen Geschichte vom 9. Jahrhundert bis hin zu Frei Ottos Membrankonstruktionen aufgerollt wird, und Erlebnisorten, an denen der Besucher Materialien erfühlen und deren Klang erlauschen kann, erweist sich die „Luftblase“ als der spannendste Raum im Raum – ein aufgelasenes weißes Gebilde aus Stoff von 3,5 Meter Höhe und acht Quadratmeter Fläche, das versteckt an hinterster Stelle der Ausstellung liegt. Darin zu sehen sind unter anderem Abbildungen des Schwimmstadions in Peking „Water Cube“ und ein Foto der „Allianz Arena“ in München samt Folienmaterial zum Ertasten: Die transluzente Haut aus Folienkissen kann bekanntlich in verschiedenen Farben leuchten. Es ist jener Raum der Ausstellung, in dem das Thema seine ganze Tragweite entfaltet, geht es hier doch um visionäre Lebensräume, um Utopien von den 1960er Jahren bis in unsere Gegenwart. Das geringe Gewicht, die Isolierfähigkeit und Transparenz machen die Luftblasen-Gebilde für die heutige Architektur besonders interessant.
Alles andere als statisch
Zahlreiche Vorträge hat Sylvie Krüger seit Erscheinen ihres Buches gehalten, das Thema ist gefragt in der Diskussion um temporäre und flexible Architektur. Besonders beim Bau von Sportstadien wurden neuartige Textilien in den vergangenen Jahren als variable Deckenkonstruktionen eingesetzt. Auch Vorhänge werden heutzutage im Innenbereich gern verwendet, um einen Bereich optisch und akustisch abzuschirmen. Ansonsten arbeitet die Textildesignerin Krüger mit Textilien im Raum und entwickelt spezifische Lösungen, wo es darum geht, einen Raum aufzuteilen, akustisch zu optimieren oder für Sicht- oder Sonnenschutz zu sorgen. „Im Gegensatz zu statischer Architektur“, so die Kuratorin, „sind Textilien flexibel und temporär einsetzbar, was ihre Verwendung im architektonischen Zusammenhang sehr reizvoll macht.“
Wenn heute in der Architektur Textilien verwendet werden, so hat das mit Dekoration herzlich wenig zu tun. Es geht vielmehr um eine veränderbare Nutzung ein und demselben Raumes. Darüber hinaus gäbe es, so Krüger, „erste Entwicklungen, Textilien zum Beispiel mit Sensoren zu bestücken, die auf äußere Einflüsse wie Berührung, Temperatur- oder Lichtänderung reagieren können. Dies ist eine Entwicklung weg von einer statischen hin zu einer auf den Nutzer reagierenden Architektur.“ Erfahrbar wird das in der Ausstellung, wenn man einen Gang durchschreitet, dessen gelbe Begrenzungen auf Druck nachgeben – ein ähnliches Gefühl wie auf einer Hüpfburg, was vor allem den vielen Schulklassen, die in die Ausstellung kommen, gefallen dürfte.
Wenn Regen auf die Luftblase trommelt
Steht man nach dieser Erfahrung in der „Luftblase“, so fragt man sich unweigerlich: Könnte es in absehbarer Zeit möglich sein, ein bewohnbares Haus rein aus Textilien herzustellen? Nun, die Architektur wird, und das lässt sich an vielen Beispielen ablesen, zumindest hier und da textiler und damit auch flexibler werden, als sie es heute ist. Inwieweit solche Bauten – besonders in den nördlichen Gefilden – auch genügend Schutz vor Regen, Wind und Kälte bieten können, wird sich zeigen müssen. Wer über Generationen an stabile Dachkonstruktionen gewöhnt ist, der wird sich, so ist zu vermuten, zumindest psychisch umstellen müssen. Einstweilen ist bei die Vorstellung, sich bei Regen oder Schnee in einer Luftblase zu befinden, nicht unbedingt beruhigend.
Wie fragt der kleine „König Dezember“, der die Beschaffenheit der Welt mit großen Augen hinterfragt, in Axel Hackes großartiger gleichnamiger Geschichte doch so schön: „Warum willst Du hinter die Wände gucken, statt Dir vorzustellen, was hinter den Wänden sein könnte?“ Nach dem Besuch dieser Ausstellung ist man versucht zu fragen: „Wände? – Welche Wände?“
Textile Architektur
20. April bis 6. Oktober.
tim | Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg
www.timbayern.de