top
Von Ruhe und Gemütlichkeit
von Mathias Remmele | 21.10.2011

Der Begriff ist fast so etwas wie ein Versprechen. Wer „Lounge Chair" hört, der denkt an Komfort, an Entspannung, an einen großen, raumgreifenden, durch seine imposante formale Erscheinung ausgezeichneten Sessel. Unsere Vorstellung von einem solchen Möbelstück ist wesentlich geprägt durch jenen berühmten Lounge Chair, den das amerikanische Designerpaar Charles und Ray Eames vor mittlerweile mehr als fünfzig Jahren entworfen haben. Komfortwunder und Statussymbol in einem hat der Lounge Chair in seiner Möbelkategorie in funktionaler und formaler Hinsicht Maßstäbe gesetzt, die bis heute gelten, ein weich gepolsterter Schalensessel mit einer tiefen, leicht nach hinten gekippten Sitzfläche und entsprechend schräg gestellter Rückenlehne, mit breiten, ebenfalls gepolsterten Armlehnen und als Ottoman bezeichneten separaten Schemel fürs entspannte Hochlegen der Beine.

Der Eames Lounge Chair wurde seinerzeit mit dem dezidierten Ziel entwickelt, eine moderne, zeitgemäße Version des englischen Klubsessels zu schaffen. Dieser Idee waren im zwanzigsten Jahrhundert vor den Eames bereits andere Gestalter nachgegangen. Als einer der ersten beispielsweise Josef Hoffmann, der den klassischen Klubsessel 1910 mit dem „Kubus" in eine streng geometrische Form brachte, die Le Corbusier dann rund zwanzig Jahre später mit den Sesseln „LC2" und „LC3" gleichsam kanonisch machte. Seine wesentliche Innovation war dabei die sichtbare Trennung von Tragstruktur und Polsterkissen. Unzählig sind die kubischen Sesselentwürfe, die seither auf den Markt kamen. Nur wenige sind so originell wie der „Bookinist" von Nils Holger Moormann.

Auch der Bauhäusler Marcel Breuer hat sich am Klubsessel abgearbeitet – freilich mit einem ganz anderen Ergebnis als Le Corbusier. Sein „Wassily Sessel", der ursprünglich „Stahlclubsessel" beziehungsweise „Clubsessel B3" hieß, ist quasi als eine Haut-und-Knochenversion des englischen Klassikers lesbar. Für Sitzkomfort sorgt statt einer voluminösen Polsterung eine textile oder lederne Bespannung zwischen der Stahlrohrkonstruktion. Dem Prinzip der Bespannung huldigen noch weitere wichtige Entwürfe. Etwa Jean Prouvés Sessel „Cité", Bruno Mathssons „Pernilla" oder der Eames „Aluminium Lounge Chair". Letzterer bietet einen seinem gepolsterten älteren Bruder ebenbürtigen Komfort – mal abgesehen von den in unseren Breiten fast immer zu kühlen Armlehnen aus Aluminium –, wirkt aber weniger gediegen-repräsentativ.

In die Reihe der betont schlank geformten Lounge Chairs, die ohne dicke Polsterung auskommen, gehört auch der von den Brüdern Bouroullec vor ein paar Jahren entworfene „Slow Chair", dessen Stahlrohrrahmen mit einem formgestrickten Textil bespannt ist. Formal nimmt dieser Sessel Bezug auf einen weiteren Lounge Chair-Klassiker der fünfziger Jahre, Eero Saarinens „Womb Chair", der damals als vollwertige Alternative zur Version des Eames' Lounge Chair galt und schon auf Grund seiner textilbezogenen Polster einen insgesamt informelleren Charakter besitzt. Zu den bedeutenden Entwürfen aus der Zeit des „Mid Century Modern" zählen natürlich auch der „Coconut Chair" von George Nelson und der „Daimond Bird Lounge Chair" von Harry Bertoia. Beide Sessel besitzen zwar eine hohe ikonische Qualität, bleiben aber, was ihren Komfort betrifft, etwas hinter den Modellen von Saarinen und den Eames zurück.

Für die Entwicklung des Lounge Chair-Designs im zwanzigsten Jahrhundert war neben dem Klubsessel auch der traditionelle Ohrensessel, der ebenfalls in Großbritannien seinen Ursprung hatte, von großer Bedeutung. Die überzeugendste und bekannteste Neuinterpretation dieses zwar bequemen, aber eher biedere Behäbigkeit ausstrahlenden Sesseltyps gelang Arne Jakobsen in den späten fünfziger Jahren mit seinem „Egg Chair". Er vermittelt das Gefühl wohliger Geborgenheit, ohne dabei altväterlich zu wirken. Auch Jakobsens Landsmänner und Zeitgenossen Hans Wegner und Finn Juhl haben sich mehrfach mit dem Thema Ohrensessel beschäftigt. Beim „Oxchair" von Wegner mutieren die Ohren freilich fast zu Hörnern und bei Juhls exzentrischem „Pelikan" erinnern sie an überdimensionierte Scheuklappen. Weitere interessante Varianten dieses Sesseltyps entstanden in den fünfziger und sechziger Jahren in Italien. Franco Albini beispielsweise gliederte bei seinem „Tre Pezzi" den Sesselkörper ähnlich wie die Eames in drei klar voneinander abgesetzte Elemente. Joe Colombo ging andere Wege und kombinierte bei seinem Sessel „Elda" eine tragende Kunststoffschale mit lederbezogenen Polstern, während Gaetano Pesces von der Popart inspirierter „Up 5"-Sessel gänzlich aus Schaumstoff gefertigt ist. Eine postmoderne Version des Ohrensessels legte Toshiyuki Kita 1980 mit „Wink" vor. Das auffälligste Merkmal dieses zur Chaiselongue wandelbaren Sessels sind seine beweglichen Ohren. Jaime Hayon ist mit seinem, schon im Namen bewusst auf den Sessel der Eames anspielenden, „Lounger Chair" im vergangenen Jahr eine ebenso frische wie überzeugende Neuinterpretation des Klassikers gelungen, die einerseits das Prinzip der ausgepolsterten Schalen aufgreift, sich andererseits aber formal deutlicher in Richtung „Ohrensessel" bewegt. Der jüngste Entwurf in dieser Reihe ist Tom Dixons „Wingback Chair". Er beweist, dass der Ohrensessel noch immer oder wieder eine Referenzgröße des Designs sein kann.

Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhundert gab es freilich auch eine ganze Reihe von Designern, die beim Entwurf eines Lounge Chairs gänzlich neue Wege gehen wollten und sich entsprechend nicht auf tradierte Formen bezogen. Zu ihnen zählt überraschenderweise Hans Wegner, der 1950 mit dem „Flag Halyard Chair" einen Sessel vorstellte, der noch heute durch seine ungewohnte Erscheinung Aufmerksamkeit erregt. Oder Pierre Paulin, dem mit dem „Ribbon Chair" ein ikonischer Entwurf der sechziger Jahre gelang. Überhaupt war diese Periode eine gute Zeit für formale Experimente. Als die vielleicht radikalste anti-traditionelle Lösung darf der „Sacco" von Gatti, Paolini und Teodoro gelten: ein birnenförmiger, mit Styropor-Kügelchen gefüllter Sack, der sich dem sitzenden Körper anpasst und zahlreiche Positionen zulässt. Zu den experimentellen Lounge Chairs gehören natürlich auch die typischen Popart-Möbel. Etwa der Sessel „Joe" von De Pas, D'Urbino und Lomazzi, der sich als überdimensionaler Baseball-Handschuh präsentiert oder der von der Designergruppe „Studio 65" entworfene Sessel „Capitello", der in Gestalt eines antiken Säulenkapitels auftritt. In Entwürfen wie dem „Alligator Chair" oder dem „Cartoon Chair" von den Camapana-Brüdern scheint heute der ironische, frech-frivole Geist dieser Pop-Designer wieder aufzuleben.

Eine umfassende Übersicht an Lounge Chairs finden Sie hier:
Lounge Chairs bei Stylepark

In unserer Serie zu den Produkttypologien ist bisher erschienen:
„Alles, was Möbel ist" von Thomas Wagner
„Nicht anlehnen!" über Hocker von Nina Reetzke

Grafik: Dimitrios Tsatsas, Stylepark