Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Ein Siebtel der Weltbevölkerung lebt in Afrika und dieser Anteil wächst unaufhaltsam. In den afrikanischen Ländern schreitet die Urbanisierung vergleichsweise schneller voran, der kontinentale Durchschnitt liegt bei 3,5 Prozent im Jahr. Prognosen besagen, dass in etwas mehr als zehn Jahren 50 Prozent der afrikanischen Bevölkerung in Städten leben wird (ungefähr 700 Millionen Menschen, vergleichbar mit der aktuellen Situation in China), das heißt der globale Durchschnitt wird 2008 erreicht.
Rasantes urbanes Wachstum
Das urbane Wachstum in Afrika erscheint zwar nicht auf vielen Radarschirmen, verläuft aber umso rasanter: Im Jahr 1960 hatte Mexico City etwas mehr als 6 Millionen Einwohner; heute sind es 21 Millionen. Seine Größe ist enorm und die Probleme seiner Ausdehnung und Verwaltung sind Gegenstand zahlreicher Studien. Als Nigeria im Oktober 1960 unabhängig wurde, hatte Lagos nur ein Zehntel der Bevölkerung der mexikanischen Hauptstadt. Heute geht man von rund 20 Millionen Einwohnern aus. Während Kairo nicht so schnell gewachsen ist, schließt es in seinem unablässigen Ausdehnungsbestreben doch mittlerweile auch die Pyramiden ein. Dabei umfasst die Einwohnerzahl von 10 Millionen nicht die der es umgebenden Satellitenstädte wie beispielsweise die „Stadt des 6. Oktober“ – der etwas holprige Name verweist auf den Beginn des Jom-Kippur-Krieges.
Außerdem wären da noch die Städte mit 5 Millionen oder mehr Einwohnern wie Abidjan, Abuja, Dar es Salaam, Johannesburg, Kano, Khartoum, Kinshasa, Mogadishu, die alle eine enorme Ausdehnung aufweisen. Die afrikanischen Städte lassen das, was man im US-amerikanischen Raum als „urban sprawl“ (zu deutsch Zersiedlung) bezeichnet, geradezu jämmerlich klein erscheinen: Ibadan in Nigeria erstreckt sich mit einer Bevölkerung von 3,5 Millionen Menschen über 400 Quadratkilometer. Die Bevölkerungszunahme hatte in den meisten afrikanischen Städten zur Folge, dass sie sich in der Breite ausdehnten und nicht in die Höhe wuchsen.
Nirgends wächst das BIP so schnell wie in Afrika
Nicht der Raum ist hier knapp, sondern es fehlen die finanziellen Mittel um Hochhäuser oder eine High-Tech-Infrastruktur zu errichten. Vielleicht ist das der Grund warum diese Städte so oft außen vor gelassen werden, wenn der Westen über eine Verbesserung von urbaner Mobilität debattiert. Es ist nicht die Urbanisierung, die in Afrika zu einem BIP-Wachstum geführt hat. Die Tatsache, dass der Kontinent die weltweit stärksten BIP-Wachstumsraten meldet, verdankt sich anderen Faktoren. Investoren, die unweigerlich die Ersten sind, wenn es darum geht eine fette Beute zu erspähen, beginnen hier das sehr vielversprechende Potenzial des Terrains in Augenschein zu nehmen. „Lions on the Move“ hieß sinnigerweise eine Publikation von McKinsey über Afrikas Entwicklung zum am schnellsten wachsenden Kontinent. Und der Koloss, den man BIP nennt, hat sich auch schon in Bewegung gesetzt.
Die Bevölkerung hingegen hat der Wandel nicht erfasst, ausgenommen die Zuwanderung in die Städte. Wo sie sich jedoch in einer ausweglosen Situation befindet. Im Jahr 2010 lebten weltweit 33 Prozent der urbanen Bevölkerung in Slums, laut Anthropocene Journal der größte Anteil davon in Subsahara-Afrika mit 199,5 Millionen (61,7 Prozent), gefolgt von Südasien mit 190,7 Millionen Menschen (35 Prozent). Das heißt, die „Top-Slumdogs“ sind nicht die Inder. In Afrika wird das BIP-Wachstum aber nicht durch einen verstärkten Ausbau der Infrastruktur unterstützt, wie in China oder Indien. In Indien verbindet das „Golden Quadrilateral“-Autobahnnetz die wichtigsten Industriestandorte des Landes. Hier wurden nahezu 6000 Kilometer von vier- oder sechsspurigen Autobahnen gebaut, um den Güterfluss im Inneren des Landes zu beschleunigen und das überalterte Schienennetz zu entlasten.
Mangelnder Ausbau der Infrastruktur
Und in Afrika? Bahnlinien? In Ostafrika gibt es weder eine von Norden nach Süden, noch eine südlich der Sahara, die Osten und Westen verbinden würde. Alles, was die Verarbeitung von Echtzeit-Satellitendaten erfordert, die zum Beispiel dafür sorgen, dass sich Hochgeschwindigkeitszüge wie es für das europäische Schienennetz typisch ist, nicht in den Weg geraten, gibt es nicht. Aber auch die vierspurige Autobahn fehlt. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, zum Beispiel die Zerschneidung des Kontinents durch die koloniale Vergangenheit in antagonistische kleine Teile, die Armut und die falsche Verteilung und Zuordnung von Geldern. Die Mobilitätsproblematik in afrikanischen Städten lässt jene an anderen Orten vergleichsweise belanglos erscheinen.
Die Urbanisierung zu bewältigen, ist dabei beileibe nicht die größte Herausforderung – auch nicht die Frage, wie man von einer großen Stadt in die andere kommt (der Flugverkehr boomt). Nein, innerhalb der Stadtgrenzen ergibt sich das größte Problem, wenn man nach dem Eintreffen in der Stadt unweigerlich im Stillstand des totalen Staus feststeckt. Es ist ein Verkehrskollaps, der die Städte mitunter zu isolierten Inseln macht, und der durch Überführungen und Ringstraßen nur noch schlimmer wird, da diese ein zusätzliches Verkehrsaufkommen begünstigen. Der Weg nach draußen in andere Ballungsgebiete bleibt für die Einwohner insofern versperrt.
Das Auto ist auch in Afrika ein Wohlstandssymbol
Das bevorzugte (oder vielmehr erschwingliche) Transportmittel, ist die erkaufte Fahrt auf einem Motorrad (mit anderen), oder, wenn auch das noch zu teuer ist, die Mitfahrt in einem Sammeltaxi (in Lagos nennt man sie Danfos) – das ist Car-Sharing par Excellence! Nirgends sieht man so viele Menschen in einem Minibus oder so viele Minibusse wie in Lagos, eine Form größter Energieeffizienz, aber auch ein Zeichen der unglaublichen Ineffizienz in diesem Land: Was für ein Verlust es für das Bruttosozialprodukt einer Nation bedeutet, wenn die meisten Arbeitskräfte morgens zwei Stunden zu ihrem Arbeitsplatz pendeln und abends wieder zwei Stunden zurück, kann man sich denken. Gar nicht zu reden von den Eltern, die außer an Wochenenden, einander nie bei Tageslicht sehen, nur weil sich ein enormer ungelenkter Verkehrsfluss durch die Stadt wälzt. Oder die Lebensmittel und das Gemüse, die verderben, weil die Lieferwege blockiert sind.
Es sieht nicht so aus als würde sich die Situation verbessern, da die aufstrebende Mittelschicht besonderen Wert darauf legt, ihren Status dadurch zu bekunden, dass sie mit dem eigenen Wagen und nicht etwa mit dem Danfo zur Arbeit fährt. Das Fernsehen im Westen und Osten suggeriert schließlich, dass es ein Auto als Wohlstandssymbol braucht.
Dem Chaos eine Ordnung aufzwingen
Die naheliegendste Strategie wäre wohl – zurückblickend – eine bessere Planung. Als Computersimulation sieht das alles ziemlich überzeugend aus, die Realität vor Ort stellt sich aber ganz anders dar. Dem Chaos eine Ordnung aufzwingen zu wollen, hat sich noch nie als leichtes Unterfangen erwiesen. Völlig absurd wird es, wenn Städte von ehemaligen kolonialen „Masters of the Universe“ als Verwaltungsstandorte geplant wurden, was bedeutet: Sie befinden sich grundsätzlich an der Küste; im Hinterland, also im Rest des Landes, befindet sich außer sehr vielen Menschen praktisch nichts. Schlimmer ist es vielleicht nur noch, wenn die Supertheoretiker der 1970er Jahre ihre Finger im Spiel hatten, wie beispielsweise Kenzo Tange, der in Anlehnung an Le Corbusier die Planhauptstadt Abuja konzipiert hat. Ausstaffiert hat man sie dann mit Wolkenkratzern im International Style der 1980er Jahre wie in Las Vegas mit viel Glas und Stahl, was in der erbarmungslosen Hitze der ohnehin mit Strom nicht gerade großzügig versorgten tropischen und subtropischen Zonen nicht so eine wahnsinnig gute Idee ist. Oder die sechsspurigen CBD-Super-Highways – obwohl das Hauptverkehrsmittel Tuk-Tuks sind. Le Corbusier (man erinnere sich an seinen Wunsch nach mehr Demokratie durch breite Straßen) war offenbar mit dem Auto in Chandigarh und hat es mit Shangri-La verwechselt.
Schlimmer noch sieht die Sache aus, wenn die Verantwortlichen überhaupt keine Planer sind und in unterwürfiger Ergebenheit nur die privaten Wünsche eines Herrschers erfüllen wollen (Yamassoukrou). Die völlige Abwesenheit von Planung gibt es allerdings auch (z. B. in Kinshasa und Mogadischu). Im Nachhinein die Situation verbessern zu wollen, ist äußerst schwierig. Es kann zu Unruhen führen wie in der Mitte der Nullerjahre in Abuja oder in Addis Abeba im Mai diesen Jahres – da sich die Einwohner einer offiziellen „Nachbesserung“ der Slums oftmals widersetzen, während die Verwaltungen ihr Gewaltmonopol ausnutzen, um eine weitere Verslumung zu verhindern.
Was also kann man tun? Den Verkehr unter die Erde legen? Kairo hat immerhin mit dem LRT-Netz eine richtige Metro (3 Linien), so wie Algier auch. Johannesburg, Pretoria, Durban und Kapstadt verfügen über eine LRT-Verbindung in die Vororte. Lagos und Addis Abeba (3,5 Millionen) eröffnen gerade ihre ersten Linien. Aber solche Projekte verschlingen Unsummen. Und da die Urbanisierung das BIP-Wachstum in Afrika nicht angetrieben hat, verfügen die Städte nicht unbedingt über die finanziellen Mittel, um solche Systeme aufzubauen. Wenn man davon ausgeht, dass ein typischer Planungszyklus zehn Jahre dauert von der Identifizierung des Problems bis zur Umsetzung der Lösung, dann bleiben bis 2025 gerade noch elf Jahre. Das heißt, die Planer sollten schnellstens beginnen nachzudenken.
Ohne Masterplan
Nach den jüngsten Zählungen hat Nairobi gegenwärtig 3,2 Millionen Einwohner. Wenn man Herzog&De Meuron in ihrer Funktion als professionelle Mentoren des „ETH Studio Basel Projekts“ dazu befragt, erhält man die Antwort: „Es ist eben eine Stadt ohne Masterplan“. Kaum vorzustellen, aber wahr. Nicht, dass Masterpläne immer hilfreich wären, sie können aber dazu führen, dass man sich auf das verlässt, was man von anderen Kontinenten kennt. Afrika hat es in einigen Fällen vermieden, Lösungen der Alten Welt zu kopieren. So hat es das Telefonfestnetz einfach übersprungen und gleich auf 3G gesetzt, während Deutschland immer noch dabei war, ein Lizenzsystem auszuarbeiten. Und jetzt setzen einige afrikanische Länder direkt auf erneuerbare Energien anstatt herkömmliche Kraftwerke zu bauen. Was die Mobilität betrifft, müssten sie allerdings sehr große Sprünge machen. Wenn die Energieeffizienz des Transportsektors im Hinblick auf die Verbreitung der effizientesten Fahrzeuge gemessen würde, dann wäre eine umfassende Verlagerung des Massentransports auf die Schiene ebenso nötig wie eine verbesserte Transportlogistik.
Seilbahnen statt U-Bahnen
Und schließlich braucht es für die zukünftige urbane Mobilität in Afrika noch eine gehörige Portion visionäres Denken. Eine solche Idee ist der Einsatz von Drahtseilbahnen in Lagos, die die Inseln verbinden und über dem Verkehr schweben würden: Kann man dem Stau nicht entkommt und auch nicht unter ihm hindurchfahren, bleibt nur der Weg obendrüber. Und Seilbahnen kosten 35mal weniger als eine U-Bahn. Eine andere Idee sind mit Solarstrom betriebene Elektroautos, die wie Raupen eine Reihe bilden: In den Städten der Subsahara sind die Distanzen, die zurückgelegt werden müssen, nicht sehr groß, die Straßen sind lediglich zu stark frequentiert. Während die Nutzer der Elektroautos ihrer Arbeit nachgehen, werden sie aufgeladen. Bleibt das Problem der Parkplätze. Könnte GPS da helfen? Wenn wir Satellitendaten nutzen, um unsere Züge kollisionsfrei am Fahren zu halten, könnte man dann nicht Sensordaten einsetzen, um sämtliche Ampeln zu steuern? Oder sollten diese Städte vielleicht auf den Cargotransport im Kurzstreckenluftverkehr setzen, insbesondere von Land umschlossene Städte?
Oder wenden wir uns nochmals den Danfos in Lagos zu: Wenn Kleintransporter, die man in Europa nicht mehr als straßentauglich erachtet, in Afrika noch lange genutzt werden, dann ist das doch eine positive Form des Recycling. Das heißt, die anfängliche soziale Investition in den Lebenszyklus eines Fahrzeugs zahlt sich aus, wenn es für weitere zwanzig Jahre auf den Straßen von Abidjan oder Accra oder Dar es Salaam (wo sie „Daladalas“ genannt werden) genutzt wird. Sollten westliche Theoretiker nicht über einen „Clean Development Mechanism“ nachdenken, der einen bestimmten Prozentsatz des Preises des Transporters „hier“ zugrunde legt und ihn dann „nach dort“ transferiert, um die Straßentauglichkeit des vorherrschenden Fahrzeugtyps zu verbessern – anstatt nur Projekte zur Reduktion von Treibhausgasen (wie beim deutschen GIZ-Transfer-Projekt) durchzuführen, die sexy sind? Wie auch immer die Lösungsansätze aussehen mögen, es bedarf vieler visionärer Entwürfe. Überdies ist es an der Zeit, weniger eurozentrisch zu denken.
Über den Autor: Dr. Jeremy Gaines ist ein in Frankfurt ansässiger Autor und Consultant. Seine Schwerpunktthemen sind nachhaltige Stadtentwicklung und erneuerbare Energien in Afrika. Gegenwärtig arbeitet Gaines an mehreren Projekten, bei denen der Fokus auf berufliche Bildung, infrastrukturelle Entwicklung und Klimawandel in Westafrika gerichtet ist. Überdies ist er Co-Lead eines Solarstromprojektes in Nigeria.