Eine Gegenrevolution namens „Urban Farming" wächst gerade der sommerlichen Ernte entgegen. Was wie ein Oxymoron klingt, will zusammenbringen, was traditionell immer wieder getrennt wird – Stadt und Land. In New York, Berlin, Tokio oder Los Angeles sitzen nun Urban Hipsters mit Harke und Schaufel bewaffnet zwischen Hochhäusern und Highways, um Essbares anzubauen. Das trendige Phänomen ist bereits zu einer internationalen Bewegung geworden, samt verbrüdernden Aktionen wie den zu Ehren der amerikanischen Stadttheoretikerin und Aktivistin Jane Jacobs im Mai weltweit ausgetragenen Stadtumzügen. Selbstversorger aller Länder, vereint Euch!
Dieser stadtgärtnernde Öko-Lifestyle ist Chiffren wie „Flower Power" verwandt, ein Slogan für einen Zeitgeist, der viele Quellen hat. Da die Ausgangssituation – Lebensumstände, Beziehungen zur Stadt, urbane Traditionen – der ökologischen Asphaltidylliker ganz unterschiedlich sind, lässt sich die Bewegung international denn auch nicht über einen Kamm scheren. Worum es im Kern geht, ist das Bemühen um ein offeneres Stadtverständnis: die Stadt wir nicht als etwas betrachtet, das man einfach vorfindet, sondern als gestalterische Aufgabe in demokratischem Geist verstanden. Dahinter steht der Wunsch nach tätigem Einsatz für die Gemeinschaft und eine richtige Ernährung. In Zeiten von Monsanto, Genfood und Gentrifikation werden bedrohte oder verloren gegangene Freiräume in der Stadt in die eigenen Hände genommen. Lokale Kontrolle wird dabei als Gegenmodell zur fortschreitenden Globalisierung verstanden.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei ein ökologisches Umdenken. Bereits im Jahr 2030 werden siebzig Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Das wird nur möglich sein, wenn sich Ballungsräume anpassen und verändern – ein besseres Mikroklima mit Selbstversorgung, effizienterer Abfallnutzung und reduzierterem Transportaufkommen entsteht. Der um Nachhaltigkeit bemühten Stadtplanung einer zunehmend verstädterten Welt ist bereits ein eigenes Label verpasst worden. „Ecological Urbanism" nennt der Landschaftsarchitekt Charles Waldheim von der Graduate School of Design der Harvard Universität die Kreativformel für eine grüne Urbanität, bei der Gegensätze wie der von Stadt und Land keine Rolle mehr spielen sollen.
Neu ist das Gärtnern in der Stadt freilich nicht. Allerdings blieben in Amerika Ideen wie „Garden City" oder „City Beautiful Movement" Randerscheinung. Mit ihnen wurde bereits Ende des vorletzten Jahrhunderts versucht, verdrängtes Grün zurück in die wachsende moderne Stadt zu holen. Mehr als eine kühne Vision war auch Frank Lloyd Wrights Idee nicht, jedem Amerikaner seinen eigenen Acker zuzusprechen. Eine deutsche Schrebergartenkultur, wie sie Ende des vorletzten Jahrhunderts in dicht bebauten Industriestädten Arbeitern Ausgleich versprach, ist in den Vereinigten Staaten so gut wie unbekannt. Hingegen hat es auch in Amerika Tradition, in Krisenzeiten und bei Versorgungsengpässen städtisches Brachland zu nutzen – wie es etwa nach dem Zweiten Weltkrieg überall in Deutschland üblich war, wo im Berliner Tiergarten vorübergehend Kühe weideten und Kartoffeln angebaut wurden. Die in den Vereinigten Staaten bereits im Ersten Weltkrieg entstandenen Nutzgärten ließ die Präsidentengattin Eleanor Roosevelt 1943 mit ihrem berühmten Regierungsbeet wieder aufleben. Die so genannten „Victory Gardens" lieferten noch Ende der vierziger Jahre vierzig Prozent des gesamten nordamerikanischen Gemüsebedarfs. Viele bestehen noch heute.
Gleichwohl hat im letzten Jahrhundert der heilige „Front Lawn" vor dem Eigenheim den bunten Nutzgarten überaus erfolgreich verdrängt. Im frisierten Grün bildet sich symbolisch das Gleichheitsverständnis der amerikanischen Verfassung ab. Auf diese Monokultur und sterile „American Beauty"-Welt zielt jetzt die boomende „Urban Farming"- und „Local Food"-Bewegung: „Attack on the Front Lawn" nennt Fritz Haeg deshalb sein Buch für Selbstversorger. Selbst die First Lady Michelle Obama macht medienwirksam mit und hegt und pflegt ein Regierungsbeet. Amerika soll zu einem gesünderen und weniger entfremdeten Ernährungsverhalten motiviert werden. Was beim Regierungsbeet allerdings schon offiziösen Charakter hat, wächst ansonsten frei und wild von Unten.
„Urban Farming" ist seinem Wesen nach immer Alternativbewegung, auch wenn inzwischen auf den Dachterrassen der Fifth Avenue in New York chic gegärtnert wird, um der Steinwüste Manhattans etwas freundliches Grün abzuringen. Zentraler wird die Bedeutung von „Urban Farming" in den versinkenden Ghosttowns Amerikas, wo es gleichsam zu einem handfesten Überlebensinstrument wird. In vielen amerikanischen Städten herrscht soziale und urbane Leere, was auch Ergebnis eines uramerikanischen Unverständnisses für Stadtkultur ist. Die Finanzkrise hat die Lage vieler innerstädtischer Armutsbezirke noch verschlechtert. In solch zerstörten Gegenden entwickelt sich „Urban Gardening" jetzt verstärkt zu einem Werkzeug, um humanere Lebensumfelder zu schaffen. Indem ungenutzte Brachen zur Lebensmittelversorgung genutzt werden, stabilisiert man gleichzeitig soziale Netzwerke und schafft funktionierende Nachbarschaften.
Die Hauptstadt der amerikanischen „Urban Farming"-Bewegung ist denn auch die der Shrinking Cities: Detroit – Amerikas geschundene Motor City, wo sich alle die Stadt zerstörenden Übel gleichzeitig ausgetobt haben – Auto und Highway, der Abbau öffentlicher Verkehrsmittel, defizitäre Stadtplanung, Separierung der Lebensverhältnisse durch jahrzehntelange Zersiedlung, „White Flight" und Gettoisierung. Ein Drittel des Stadtgebiets ist heute Brachland oder besteht aus Ruinen. Über eine Millionen Einwohner haben im letzten halben Jahrhundert die Stadt verlassen und werden nicht wieder zurückkehren. Seit einigen Jahren gedeiht in diesem zerfledderten Stadtraum, der wie ein Donut von Suburbs umzingelt ist und wo selbst Kettenläden auf die versorgungsnotwendigen Filialen verzichten, eine ernstzunehmende Grassroots-Bewegung, die aus Verfall und Leere neues Leben entstehen lässt. Das Modell ist so erfolgreich, dass ein Detroiter Millionär den Plan vorgelegt hat, in der Stadt die größte „Urban Farm" der Welt aufzubauen. Dafür müssten aber selbst in Detroit Bewohner umgesiedelt werden.
Wie das Schicksal der Hippie-Kommune „Freetown Christiania" in Kopenhagen zeigt, oder die mittlerweile schon fast vergessenen „Rollheimer", den „rolling homes" in Berlin, haben alternative Wiederbelebungsprojekte von Stadträumen meist nur ein kurzes Leben. Irgendwann müssen sie dem politischen Druck oder steigenden Bodenpreisen weichen. Der freie Anbau von Gurken und Tomaten funktioniert nur so lange, wie der Grundstücksmarkt danieder liegt. Sobald städtische Areale wieder an Attraktivität gewinnen, verschwinden die Freiräume. In Detroit, das mit seinen extremen Verhältnissen zu so etwas wie einem Labor für Stadtplaner geworden ist, bedeutet „Urban Farming" freilich längst mehr als Notstandsverwaltung oder das Errichten eines Aussteiger-Eldorados. Es ist das inspirierende Pflänzchen einer völlig neuen Stadtidentität. Man meint bereits zu erkennen, wie hier aus Ruinen eine andere Stadt entsteht, wie Cluster kleiner Dorfgemeinschaften aus einer grünen Umgebung wachsen, wie eine Zukunft gedeiht, die halb Dorf und halb Stadt ist.
Anschaulicher ist in der Tat nirgendwo zu erfahren, was urbane Landwirtschaft sein kann. Schon in den fünfziger Jahren hatte der nach Amerika eingewanderte deutsche Landschaftsarchitekt Ludwig Hilberseimer geahnt, was der Mensch nach der industriellen Zerstörung einmal brauchen würde. Als er gemeinsam mit Mies van der Rohe in Detroit im Rahmen eines Stadterneuerungsprojekts den „Lafayette Park" mit Stadt- und Hochhäusern entwarf, plädierte Hilberseimer immer wieder für Selbstversorgergärten. Vergeblich. Erst jetzt, so scheint es, ein halbes Jahrhundert später, hat Detroit den Wink verstanden. Oder, wie es die Harvard-Dozentin Dorothée Imbert beschreibt: Selbstversorgergärten stabilisieren eine moderne Gesellschaft moralisch und ökonomisch. Kurz: Sie sind unverzichtbar.