Eine eher rustikale Möblierung wird mit einem großen orangefarbenen Sitzkissen konfrontiert. Bei den Möbeln handelt es sich um Ausstattungsstücke aus dem 1937 in München erbauten „Haus der deutschen Kunst" sowie aus einem Wohnhaus, das vom „Office for Metropolitan Architecture - OMA" 1998 in Bordeaux realisiert wurde. Während die Möbel des Münchner Ausstellungshauses nach dem Krieg ins Depot verbannt wurden, wurde das Haus in Frankreich schon unmittelbar nach seiner Fertigstellung zum Denkmal erklärt. Die weltweite Tendenz, immer mehr Bausubstanz in immer kürzerer Zeit unter Schutz zu stellen, führt ironischerweise auch zum Gegenteil dessen, was beabsichtigt ist: zur Zerstörung einer lebendigen Entwicklung.
Die Ambivalenz des Bewahrens
Koolhaas und sein Team analysieren in der Ausstellung die daraus resultierende Ambivalenz - sie wird sogar als Schizophrenie bezeichnet - zwischen der Sehnsucht nach dem Einfrieren des Status quo und dem Mangel an einem Plan, wie mit diesem Erbe verfahren werden kann. Suggestive Montagen, Diagramme und Statistiken versuchen zu belegen, dass die divergierenden Entwicklungen als ein zusammenhängendes Phänomen betrachtet werden müssen. Als Beispiel wird der Abriss des Palastes der Republik in Berlin angeführt. Während sich die Abrissbefürworter als Bewahrer des Alten definieren, bezeugen sie zugleich wenig Respekt gegenüber der Erinnerung. Einerseits wird eine bestimmte Art von Erinnerung propagiert, andererseits wird Erinnerung komplett unterdrückt. Mittels assoziativer Verknüpfungen untersucht Koolhaas das Phänomen des verordneten Erhaltens als eine nicht zu unterschätzende Macht, die, wie ein Regime, immer größere Territorien - angeblich bereits zwölf Prozent der Erde - beherrscht.
Chaos statt Chronologie
Gezeigt werden sowohl Bauten, die durch die Sanierung ihrer Lebendigkeit beraubt wurden, als auch der paradox erscheinende Fall des Denkmalschutzes für eine Architektur, die als veränderbar konzipiert war, wie den Nakagin-Kapselturm in Tokio, der sich durch austauschbare Wohneinheiten permanent erneuern sollte. Allerdings ist er im Verfall begriffen und soll - trotz der offiziellen Anerkennung als bedeutendes Baudenkmal -abgerissen werden. Als Kontrast zeigt die Ausstellung auch das „präventive Mittelmaß", also Bauten, die, aufgrund der Wertschätzung für das Alte, diesem nachempfunden werden, so dass sie nicht einmal mehr für Experten datierbar sind. Diese Haltung wird von einer Welle des systematischen Abreißens der Nachkriegsarchitektur begleitet. Die gegenwärtige Entwicklung lasse sich nicht mehr, so die These von Koolhaas, als eine historische Chronologie ablesen, sie erscheine vielmehr als Chaos.
Wandel und Stillstand
Wie vorangehende, großangelegten theoretische Untersuchungen von OMA beziehungsweise dessen Forschungsabteilung AMO zu Stadtexpansionen, Shopping und Infrastrukturprojekten, steht auch die aktuelle Auseinandersetzung in einem unmittelbaren Bezug zur praktischen Tätigkeit des Büros, und das nicht nur, da es parallel zur Ausstellungseröffnung offiziell mit der Sanierung der Venezianischen Fondaco dei Tedeschi beauftragt wurde. Den Anspruch einer kritischen Reflexion behaupten die Hypothesen durch die Verknüpfung mit dem eigenen Werk. So fließen in die Präsentation die zahlreichen Projekte des Büros „zum Umgang mit Geschichte", etwa des Entwurfs für die Erweiterung des niederländischen Parlaments von 1978, immer wieder mit ein. Unter einer Abbildung der von OMA zum „Ruhr Museum" umgebauten Kohlenwäsche der Zeche Zollverein in Essen ist beispielsweise zu lesen: „Wir erreichten fast das utopische Ziel ‚nichts' zu tun: keine Entkernung, keine Erhabenheit, keine Ruine, nur Nichts ... Wir waren sehr stolz ..." Das Wort „fast" kann man allerdings mit einem Fragezeichen versehen, da der Bau, ähnlich wie es nun auch für den Innenhof des Gebäudes neben der Rialto-Brücke geplant ist, mit einer leuchtend orangefarbenen Rolltreppenanlage ergänzt wurde, die sich als etwas konsequent Neues behauptet, als gelte es, die gegenwärtige Entwicklung widerzuspiegeln: radikaler Wandel und radikaler Stillstand.
Während sich die Ausstellungsbesucher die Katalogseiten von dicken Blöcken selbst abreißen und die Chronologie in ihrer losen Blattsammlung dadurch durcheinander bringen können, wurde dem mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichneten Rem Koolhaas vorgeworfen, er trage mit seinem Projekt für die Fondaco die Tedesci selbst zur Veränderung Venedigs bei.
In unserer Serie zur Architekturbiennale sind bislang erschienen:
› Oliver Elser über die zentrale Ausstellung der Biennale-Leiterin Kazuyo Sejima
› Dirk Meyhöfer über „Sehnsucht" im deutschen Pavillon
› Sandra Hofmeister über urbane Freiräume und Leerstand in den Pavillons von Frankreich und den Niederlanden
› Annette Tietenberg über den britischen Pavillon, in den eine Schule des Sehens Einzug gehalten hat
› Carsten Krohn über das Ende der "signature architecture" und den Beginn einer Atmosphärenproduktion
› Dirk Meyhöfer über die Gefühlslagen auf dem Weg zur Reanimierung der russischen Industriestadt Vyshny Volochok
› Claus Käpplinger über die Länderpavillons außerhalb der Giardini und der Arsenale
› Axel Simon über den japanischen Pavillon und Tokio als metabolistische Stadt voller Puppenhäuser
› Annette Tietenberg über den Pavillon Bahrains, der mit einem Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag ausgezeichnet wurde
› Axel Simon über die Inszenierung von Zukunftsvisionen
› Claus Käpplinger über Brückenbau in der Schweiz
› Carsten Krohn über Brasilia als Anti-Stadt
› Claus Käpplinger über das alternative Leben der Kibbuzim in Israel