Kein anderes Möbelstück spielt im Leben vieler Menschen eine so große Rolle wie der Bürodrehstuhl. Und kein anderes ist in seiner Beschaffenheit in vergleichbarer Weise durch eine solche Vielzahl von Normen und Sicherheitsvorschriften fixiert. Bei der Gestaltung von Bürostühlen, die längst als wichtigstes, weil dem menschlichen Körper am nächsten stehendes Arbeitsinstrument begriffen werden, standen mithin schon immer funktionale Gesichtspunkte im Vordergrund. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts liefert die Ergonomie die für diesen Möbeltypus entscheidenden wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die grundlegenden Ziele der Ergonomie – die Arbeitsmittel den Bedingungen der menschlichen Physiognomie möglichst optimal anzupassen, um einerseits die Produktivität zu sichern, und andererseits gesundheitlichen Schäden vorzubeugen – mögen gleich geblieben sein; die Vorstellungen von dem, was einen ergonomischen Bürostuhl ausmacht, unterliegen dagegen einem erheblichen Wandel.
Nicht nur sind die Ansprüche an diese Art von Sitzmöbel stetig gewachsen, auch die Lehre vom „richtigen", also gesunden oder zumindest nicht weiter schädlichen Sitzen hat sich verändert. Galt im Zeitalter der Schreibmaschine ein ordentliches, sprich gerades, aufrechtes, um nicht zu sagen steifes Sitzen am Arbeitsplatz als ideal, hat sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts allmählich die Erkenntnis durchgesetzt, dass wechselnde Sitzhaltungen und selbst ein betont lässiges, nach Entspannung aussehendes Lümmeln – früher undenkbar und in höchstem Maße unschicklich im Büro – dem komplexen menschlichen Stütz- und Bewegungsapparat weit eher entsprechen. Folglich bildet heute die Lehre vom „dynamischen Sitzen", dem sogar positive Effekte auf die mentalen Fähigkeiten des Menschen zugeschrieben werden, die Grundlage für die Entwicklung von Bürostühlen. Man kann diesen Wandel mit der Verbreitung des Personal Computer in Verbindung bringen, der anders als die Schreibmaschine verschiedene Arbeitshaltungen zulässt – der Tastaturblock und in noch höherem Maße das Laptop, lassen sich bei weit nach hinten gebeugtem Rücken eben auch lässig auf den Oberschenkeln platzieren. Man kann den neuen Sitzkodex aber auch mit einer veränderten gesellschaftlichen Vorstellung von Arbeit in Verbindung bringen, die den Angestellten in gewissen Bereichen ein höheres Maß an individueller Freiheit zubilligt.
Das Verständnis des Bürostuhls als Arbeitsmittel und die stetig wachsenden funktionalen Anforderungen an dieses Gerät haben ihn schon früh zu einer Art „Maschine" werden lassen. Heutige Referenzmodelle sind komplexe technische Gebilde mit einer ausgetüftelten Feinmechanik und zahlreichen Bedienungselementen zur individuellen Einstellung. Auf Rollen gelagert, verfügen sie über eine gefederte, drehbare und in der Höhe variabel einstellbare Sitzfläche, die durch eine Synchronmechanik mit der Rückenlehne gekoppelt ist. Körpergerecht geformt und mit einer in der Höhe verschiebbaren Lumbalstütze ausgestattet, lässt sich diese Lehne mit fein justierbarem Widerstand weit nach hinten neigen, wobei eine mal fix integrierte, mal optionale Kopf- beziehungsweise Nackenstütze der Entlastung der Hals- und Nackenmuskulatur dient. Armlehnen, oft optional und in der Regel individuell einstellbar, runden die wesentlichen funktionalen Features des zeitgemäßen Bürodrehstuhls ab. Versteht sich, dass alle direkt mit dem menschlichen Körper in Berührung kommenden Teile dieses Möbels aus weichen, flexiblen Materialien bestehen, die auch bei langen Sitzungen Komfort garantieren.
Die sich wandelnden und ständig wachsenden Ansprüche an den Bürodrehstuhl sorgen für einen auf Innovation fixierten Markt, auf dem die einzelnen Modelle meist nur eine relativ kurze Lebensdauer haben. Bürostuhlklassiker wie der „Aluminium Chair" von Charles und Ray Eames (1958) oder das Modell „3217" aus der legendären „Series 7" von Arne Jacobsen (1955), die sich ungeachtet ihres bereits beträchtlichen Alters und ihrer Lowtech-Ausstattung einer ungebrochenen, ja weiter wachsenden Popularität erfreuen, bilden die Ausnahme von der Regel. Ihr hauptsächlichen Einsatzgebiete sind freilich nicht das klassische Durchschnittsbüro, sondern der Executive-Bereich beziehungsweise das Home-Office.
Meilensteine der jüngeren Bürostuhl-Designgeschichte, wie etwa der „Synthesis 45" von Ettore Sottsass (1973) oder der von Wolfgang Müller-Deisig entworfene „Vitramat" (1976), bei dem die vom langjährigen Vitra-Entwicklungsleiter Egon Bräuning konstruierten Synchronmechanik erstmalig zum Einsatz kam, sind hingegen schon lange vom Markt verschwunden. Längst zum Klassiker geworden ist die „FS"-Linie, die Klaus Franck und Werner Sauer bereits vor dreißig Jahren für Wilkhahn entwickelt haben. Hier passt sich eine hochflexible Sitzschale automatisch jedem Haltungswechsel an.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten dominierten betont technizistisch anmutenden Sitzmaschinen. Einer der erfolgreichsten Modelle aus dieser Kategorie ist der von William Stumpf und Donald Chadwick entwickelte, mittlerweile vielfach variierte und kopierte „Aeron Chair". Auch der von Mario und Claudio Bellini entworfenen „Ypsilon", der von hinten betrachtet aussieht wie ein abstrahiertes Gerippe zum Draufsitzen, gehört in diese Reihe. Zuletzt sorgte der vom Designbüro Wiege für Wilkhahn gestaltete „On", der auf einem bemerkenswerten Bewegungskonzept basiert, für Aufsehen in der Branche.
In jüngster Zeit scheint die technische Hochrüstung der Bürostühle, deren funktionalen Features über Jahrzehnte so ausgefeilt wurden, so dass man als Nutzer fast schon eine Gebrauchsanleitung benötigt, um den Stuhl den eigenen Körpermaßen und Sitzbedürfnissen anzupassen, an einen – wahrscheinlich nur vorläufigen – Endpunkt gekommen zu sein. Ein Indiz dafür sind neuere Entwürfe, die nicht mehr in erster Linie auf technische Innovation setzen, sondern andere Qualitäten des Bürostuhls in den Vordergrund rücken. Bei dem von den Brüdern Bouroullec entworfenen „Worknest" ging es vor allem darum, den im Bürostuhl sitzenden Menschen ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln und durch die aufeinander abgestimmten Farbvarianten eine Identifikation der Büromenschen mit ihrem Arbeitsgerät zu erreichen. Auch bei dem von Antonio Citterio entwickelten „ID Chair", einem neuartigen Bürostuhl-Baukastensystem, waren Fragen der Identität und Individualität zentrale Themen. Einen ganz anderen Weg beschritt Konstantin Grcic mit dem „360°". Um ein möglichst variantenreiches, flexibles Sitzen zu ermöglichen, schuf er ein sperrig anmutendes Möbelstück, dessen zeichenhaft reduzierte formale Erscheinung die eingefahrenen Konventionen des Bürostuhl-Designs souverän missachtet.
Eine umfassende Übersicht an Bürodrehstühlen finden Sie hier:
› Bürodrehstühle bei Stylepark
In unserer Serie zu den Produkttypologien sind bisher erschienen:
› „Alles, was Möbel ist" von Thomas Wagner
› „Nicht anlehnen!" über Hocker von Nina Reetzke
› „Von Ruhe und Gemütlichkeit" über Lounge Chairs von Mathias Remmele
› „Schaumstoffwiese, länger frisch" von Markus Frenzl
› „Im Universum der Stühle" von Sandra Hofmeister
› „Alles, was Stuhl sein kann" von Claus Richter
› „Das Regal – ein Möbel der öffentlichen Ordnung" von Thomas Edelmann
› „Wie der Sessel Ohren erhielt" über Sessel von Knuth Hornbogen
› „Die Stütze der Gesellschaft" über Regale von Thomas Edelmann
› „Der Schaukelstuhl als Passagenphänomen" von Annette Tietenberg
› „ Die kleine Welt der Multifunktionsmöbel" von Nancy Jehmlich
› „Nun hopsen Sie doch nicht so!" über Betten von Annette Tietenberg
› „Es ist angerichtet" über Tische von Sandra Hofmeister
› „Die Couch. Eine psychoanalytische Fantasie" von Thomas Wagner