Für ein Memory-Spiel der Architektur wäre dies ein perfektes Pärchen: das massive, gar nicht klösterlich anmutende Kloster Sainte-Marie de La Tourette von Le Corbusier aus dem Jahr 1955 und sein Doppelgänger, die Boston City Hall der Architekten Kallmann, McKinnell und Knowles, eingeweiht an einem schneeverwehten Neujahrsmorgen des Jahres 1969. Während Le Corbusiers Spätwerk Pilgerstätte für Architekten geworden ist, droht seinem Doppelgänger langsam der Garaus. Das gewaltige Bürgermonument, das zu den letzten großen Rathausbauten des vergangenen Jahrhunderts zählt, symbolisiert in Amerika wie kein anderes Gebäude die Verfehlungen und Provokationen eines bei der breiten Masse seit jeher wenig beliebten Architekturstils. Die raumgreifenden „Skulpturen" des so genannten „Brutalismus" mit ihrem puristisch zur Schau gestellten Rohbeton sind für viele Amerikaner so befremdend, dass es ein Wunder wäre, sollte auf diese von Le Corbusier beeinflusste Spätmoderne ein sicherer Platz in der Geschichte warten.
Würde man morgen in Boston die Bevölkerung fragen, wie sie zu dem Bauwerk steht, wäre der 90.000 Tonnen schwere Rathausbau bereits übermorgen verschwunden. In Amerikas ältester Metropole, wo traditionelle „Brownstones" die Identität stiften und das städtische Bewusstsein eng mit Amerikas Kolonialgeschichte verwoben ist, war das Verhältnis zu einer verordneten Moderne von Anfang an schwierig. Inzwischen hat das Aufbegehren gegen den Vorzeigebau in Boston Volkssportcharakter angenommen: Hässlicher geht es für viele kaum. Wer das Gespräch auf die City Hall lenkt, die in bester Lage direkt am Hafen liegt, der hat das Gefühl, der Stadt wäre hier vor vierzig Jahren ein Kuckucksei ins Nest gelegt worden.
Urbane Erinnerungen sind kurz und selektiv. Wie viele brutalistische Großtaten - und Amerika ist damit gut versorgt - ist auch die eindrucksvolle Boston City Hall in ihrer Umgebung ein Fremdkörper geblieben und nie richtig im Stadtgedächtnis angekommen. Bostons Rathaus stammt aus einer Zeit radikaler städtebaulicher Utopien. Um diesen näher zu kommen, wurde in vielen amerikanischen Städten der Abrisshammer geschwungen, und selbst in Boston, einer der wenigen gewachsenen und nicht auf dem Reißbrett geplanten Städte des Landes, Autobahnschneisen brachial durch die Innenstadt geschlagen. Viele der alten, dicht bebauten Viertel, die inzwischen - sollten sie den Kahlschlag überlebt haben - wieder stolz den Touristen vorgeführt werden, mussten einem angeblich zeitgemäßeren Stadtverständnis weichen. So verschwand in Downtown das als unhygienisch und verrucht verschriene Viertel rund um den so genannten Scollay Square zugunsten eines gigantischen Regierungsareals. Das neue Rathaus, nach einem Masterplan des Architekten I.M. Pei angelegt, wurde zum Flaggschiff dieses Government Centers bestimmt. Es sollte zum Symbol für ein „New Boston" werden, mit einem ähnlichen Effekt wie später in Bilbao, wo Frank Gehry mit dem Neubau einer Guggenheim-Dependence den Anstoß zur Transformation eines ganzen Viertels gab, was der Stadt sogar ein neues Image eingetragen hat. Obwohl man es inzwischen kaum mehr glauben will, war die Boston City Hall ein Signal für Aufbruch und Neubeginn, ohne das, wie viele meinen, die Hauptstadt von Massachusetts niemals zu einem Bildungs- und Innovationsstandort geworden wäre.
Bei der ersten Präsentation des Entwurfs, mit dem sich die damals noch völlig unbekannten Architekten Kallmann, McKinnell und Knowles unter 256 Büros durchgesetzt hatten, verschlug es dem amtierenden Bürgermeister John Collins allerdings die Sprache. Sein Kommentar war: „What the fuck is that?" Dennoch wurde die dramatische Selbstdarstellung der Stadtregierung gebaut: neun Stockwerke hoch und eingebettet in einen vier Hektar großen Rathausplatz, dessen Grundform man angeblich dem italienischen Siena abgeschaut hatte. Das Time Magazine nannte den Bau eines der spektakulärsten Großprojekte überhaupt, und im Jahr 1976 kürte eine Expertengruppe des „American Institute of Architecture" Bostons Rathaus zu den sechs wichtigsten Bauten Amerikas.
Auszeichnungen gibt es heute keine mehr. Die City Hall, die zu allem Überfluss letztes Jahr auch noch medienwirksam von der Internetseite „VirtualTourist.com" zum hässlichsten Gebäude der Welt gekürt wurde, ist seit vierzig Jahren, also seit ihrer Eröffnung, nicht mehr renoviert worden. Eine so programmatische Vernachlässigung übersteht kein Gebäude. Im Jahr 2006 stellte Bostons Bürgermeister Thomas Menino, der in der fünften Etage des Baus mit Blick über den Hafen sein „old english" getäfeltes Büro hat, den Antrag, das als „Hall of Shame" verdammte Rathaus zu verscherbeln. Der Plan ist wegen der Finanzkrise erst einmal auf das Jahr 2011 verschoben worden. Danach soll an der Waterfront in South Boston, einem mäßig erfolgreichen städtischen Entwicklungsgebiet, ein neuer Regierungsstandort errichtet werden. Als hätte man in Amerika, wo öffentliche Orte seit jeher kaum eine Rolle spielen, ganz vergessen, dass es durchaus sinnvoll ist, ein Rathaus ins Zentrum einer Stadt zu setzen. Doch das sei heute, so die Argumentation von Bostons Bürgermeister, nicht mehr nötig, denn alles passiere ja sowieso im Internet.
Bostons Rathaus sieht mittlerweile tatsächlich so gammelig aus, dass man froh ist, wenn man dort nichts erledigen muss. Im archaisch anmutenden, unverkitschten Inneren, wo sich der graue Beton um ein weitläufiges Atrium fügt und kathedralenartige Deckengefüge eigentlich fabelhafte Raumgeometrien entfalten, erinnert die Abgewirtschaftetheit beklemmend an trostlose Einwohnermeldeämter. Das einst maßgefertigte Mobiliar der skandinavischen Moderne wurde gegen schnörkelige Louis-Seize-Immitate eingetauscht, die inzwischen auch schon einige Jahre hinter sich haben. Defekte Glasscheiben und Deckenleuchten werden gar nicht erst ersetzt. Man klagt, dass das Gebäude zu dunkel sei und als öffentlicher Ort und Repräsentationsbau nicht funktioniere.
Den grauen Rathausgiganten als Teil einer Stadtgeschichte zu begreifen und ihn in den Rang einer zeithistorischen Ikone zu erheben, ist bislang zumindest völlig unpopulär. Boston hat keinen Zugang zu seinem brutalistischen Erbe gefunden. Dabei ist die Stadt gespickt mit einnehmenden Betonsolitären. Das Spektrum reicht von kaum bekannten Exemplaren wie dem „Boston Architectural College" über die mediterrane Betonmoderne von Josep Lluis Sert und die gigantischen Raumskulpturen von Paul Rudolph bis hin zum - allerdings gefeierten - „Carpenter Center for the Visual Arts" auf dem Harvard Campus in Cambridge, dem einzigen Gebäude von Le Corbusier in Amerika überhaupt.
Treffend stellte der Architekturkritiker der „New York Times", Nicolai Ouroussoff, Anfang des Jahres fest, die dringlichste Frage in der Architektur gelte derzeit nicht mehr der Dominanz der Stararchitekten, sondern dem Umgang mit den „leftovers" aus der Brutalismusphase der Nachkriegsära. Dass trotz aller Abneigungen manchmal doch eine Anerkennung möglich ist, bewies vor kurzem die Renovierung von Paul Rudolphs jahrelang malträtierter „Yale School of Art and Architecture" in New Haven. Ganz tatenlos schaut man auch in Boston dem Verfall seines geschundenen Stadtzeichens nicht zu. Für einen Identitätserhalt setzt sich neuerdings die Initiative „Citizens for City Hall" ein. Im Jahr 2007 wurde die Ausstellung „Rethinking Boston City Hall" initiiert, und die „Boston Society of Architecture" veranstaltete einen - allerdings nur Papier gebliebenen -Wettbewerb zur Umgestaltung des kasernenhofartigen Rathausplatzes. Dies sind bislang aber nur vereinzelte Stimmen am Rand. Für den achtzig Jahre alten Herbert Gleason, der als ehemaliger Syndikus der Bostoner Stadtverwaltung Ende der sechziger Jahre voll Euphorie in das neue Gebäude eingezogen war, hängt eine Aufwertung der ungeliebten City Hall vor allem von ihren politischen Fürsprechern ab. Die fraglos komplizierte Architektur, meint Gleason, verlange nach einer Stadtregierung, die erst einmal selbst diesen Bau verstehen lerne, um sich dann aufklärend für seinen Erhalt einzusetzen. Bostons Rathaus als bloßen Fehlschlag der Geschichte abzutun, sei jedenfalls zu einfach.