Der Schaukelstuhl ist ein Möbel für all jene, die zwar sitzen, aber auf keinen Fall still sitzen möchten. Das trifft nicht nur auf den hyperaktiven Zappelphilipp zu. Das langsame Hin und Her, das allmähliche Einschwingen, hat auch seine meditativen Seiten. Der Schaukelstuhl versetzt den menschlichen Körper sachte in Bewegung. Dadurch nimmt der Sitzende den Raum aus einer Perspektive der leichten Unschärfe wahr, was angenehme Erinnerungen an das kindliche Geschaukeltwerden wach ruft. Einmal in Gang gesetzt, pendelt das Möbel vor und zurück. Doch käme diese Bewegung in kürzester Zeit zum Stillstand, wäre der Schaukelnde nicht bereit, an den Umkehrpunkten minimal sein Gewicht zu verlagern, sich mit den Füßen vom Boden abzustoßen und aus der Hüfte heraus den Oberkörper leicht aufzurichten. So fällt es schwer, den Schaukelstuhl kategorial eindeutig zu fassen: Er ist Stuhl und Wiege, Ruhe- und Bewegungsmöbel zugleich. Im Gebrauch wechseln sich Phasen des Genießens der eigenen Passivität mit jenen der Sensibilisierung für geringe Aktivität ab. Der Schaukelstuhl ist also, um es mit einem Begriff von Walter Benjamin zu sagen, nichts Geringeres als ein Passagenphänomen.
Das mag nicht zuletzt an seiner Entstehungszeit liegen. Der Schaukelstuhl, genauer gesagt, der „Rocking Chair", findet 1787 erstmals im „Oxford English Dictionary" Erwähnung und wird nachweisbar seit 1789 in Möbelkatalogen zum Verkauf angeboten. Er ist mithin ein Produkt der Aufklärung. Wo die Vernunft regieren sollte – in der Schule, in der Universität, in der Verwaltung, im Parlament – wurde der Körper mit Hilfe von Stühlen und Bänken ruhig gestellt, um Triebe und Sinne daran zu hindern, vom reinen Denken abzulenken. Vor solch einem kulturhistorischen Horizont verfügt der Schaukelstuhl über reichlich subversives Potenzial. Seht her, scheint er zu wispern, sitzen, verbunden mit der Aufwertung der intellektuellen Fähigkeiten, muss nicht notgedrungen mit einer Entwertung des Leiblichen einhergehen. Wie gern in ihm gelesen und nachgedacht wird, sieht man schon daran, dass sich Geistesgrößen wie Abraham Lincoln, Mark Twain und Pablo Picasso mit Vergnügen im Schaukelstuhl ablichten ließen. Ihre erhellenden Einsichten scheinen sie weniger der disziplinierten, zielgerichteten Kopfarbeit am Schreibtisch als dem mit Lustgewinn verbundenen Auf-der-Stelle-Schaukeln im freien Raum zu verdanken zu haben. Ihr Glückszustand lässt sich inzwischen sogar wissenschaftlich erklären. Beim Schaukeln wird der Botenstoff Serotonin ausgeschüttet. Der Schaukelstuhl erweist sich also auch hier als Passagenphänomen: Als Stuhl propagiert er, dass man im Sitzen gut denken kann; als Schaukel erinnert er daran, dass das Denken durchaus einer ganzkörperlichen sinnlichen Erfahrung entspringen darf. Er ist, kurz gesagt, eine reichlich wankelmütige Gerätschaft, die dem nach Klarheit strebenden Geist zu verstehen gibt, dass auch er in einem Körper wohnt.
Die Erfindung seiner Frühform schreibt man den Shakern zu. Mitglieder dieser amerikanischen Glaubensgemeinschaft begannen Ende des 18. Jahrhunderts damit, ihre spärlich eingerichteten Wohnungen mit „Rockers" auszustatten. Wie sämtliche Möbel, die sie herstellten, entsprachen auch die Schaukelstühle dem Gebot der „anspruchslosen Einfachheit" und – wie wir heute sagen würden – der Nachhaltigkeit. Sie durften „keine überflüssige Zier" tragen. Nicht anders als die übrigen Stühle der Shaker-Produktion waren auch die Schaukelstühle in Serie und aus heimischem Holz gefertigt, verfügten über einen strohgeflochtenen oder textilen Sitz und zeichneten sich durch Klarheit der Form, ja eine regelrechte Zurschaustellung der Sprossenkonstruktion aus. Nur einen, wenn auch entscheidenden Unterschied gibt es: Die Stuhlbeine setzen eben nicht auf dem Boden auf, sondern sind an den Seiten paarweise auf zwei mondsichelförmigen Kufen befestigt.
Sechzig Jahre später bewies Michael Thonet, dass Stuhl und Kufen keine bloße Addition sein müssen, sondern sich als untrennbar ineinander verwobenes Ornament begreifen lassen. Sein „Schaukel-Fauteuil No. 1", der in Seitenansicht dem Schwung der zeichnerischen Linie huldigt, wurde 1860 erstmals im Thonet-Werk im mährischen Koritschan unter Anwendung der Biegeholztechnik realisiert. Im Jahr 2009 erlebte das gesuchte Sammlerstück eine Wiederauflage: Thonet produzierte in Frankenberg nach alter Familientradition eine Kleinserie von 25 Exemplaren.
Bis heute stellen sich Designer der Aufgabe, einen Schaukelstuhl zu entwerfen, ausgesprochen gerne. Schließlich ist dieser wippende Stuhl der Sinnlichkeit weit mehr verpflichtet als die meisten anderen Sitzgelegenheiten. Zudem lässt er Experimente zu, denn er ist weder notwendiger Bestandteil der Arbeitswelt noch Ehrfurcht einflößendes Repräsentationsobjekt. Auch dass er, verglichen mit Bürostühlen, Sesseln oder Sofas, in geringer Stückzahl produziert wird, dürfte den Grad seiner Beliebtheit eher steigern. So muss man nicht auf große Absatzmärkte schielen, sondern darf sich im Bereich des Luxussegments, ja des sogenannten Designerstücks namentlich verewigen, denn ein Schaukelstuhl ist vieles – nur eines nicht: unbedingt notwendig.
Als modellhaftes Experimentierfeld für wahrnehmungstheoretische Studien entdeckte Friedrich Kiesler den Schaukelstuhl schon 1942, als er im Rahmen seiner correalistischen Forschungen herauszufinden suchte, welche Kräfte fließen, wenn Nutzer und Möbel miteinander in Interaktion treten. Kiesler entwarf den „Rocker", eine Konstruktion aus Buchenholz, umhüllt von Linoleum. Obwohl seine amorphe Form dies nicht vermuten lässt, liegt dem „Rocker" ein geometrisches Konstruktionsschema zugrunde. Kreise, die in ein Trapez eingeschrieben sind, definieren die geschwungene Umrisslinie des Korpus. Was den „Rocker" so bemerkenswert macht: Er stellt eine Einheit aus Sitzfläche, Rückenlehne und Kufen dar, ist also nicht aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt. Positiv auf die menschliche Psyche wirkt sich laut Kiesler nicht nur die organische Form aus, sondern auch die Erfahrung, mit einer stimmigen Symbiose aus Funktion, Konstruktion und Materialität eins werden zu können. Denn, so Kieslers Einsicht: „Wenn wir einen Sessel benutzen, nehmen wir seine Energie in uns auf."
So wie Kiesler vertreten auch Charles und Ray Eames mit ihrem „RAR" (1948) die Auffassung eines organischen Designs, wobei sich der Stuhl den Rundungen und Bewegungen des menschlichen Körpers anpasst – nicht umgekehrt. Die auf Kufen montierte Sitzschale aus Kunststoff ist so geformt, dass sie den Körper fasst, trägt, umhüllt, ihm jedoch keine geometrische Form aufzwingt. Diese Idee greift auch Eero Aarnio mit „Pastilli" (1967) auf, als er von dem finnischen Möbelhaus Asko den Auftrag erhielt, einen Plastikstuhl zu entwerfen. Eero Aarnio feiert nicht nur die Glätte, Widerstandsfähigkeit und Farbintensität des Kunststoffs. Er zelebriert auch dessen nahezu unbegrenzte Formbarkeit, indem er Sitzfläche, Gestell und Beine des Stuhls so miteinander verschmelzen lässt, dass ein bonbonähnliches Oval entsteht, das in alle Richtungen schwanken und schaukeln kann. „Pastilli" verlangt dem Nutzer ab, sich spielerisch im Gleichgewicht zu halten, reaktiviert somit jene Sinne, die üblicherweise im Sitzen ruhig gestellt werden und wurde deshalb im plastikversessenen Space Age als „Lustobjekt" verehrt.
Entspannung, Aktivierung der Sinne und Freude am „disegno" verspricht auch der „Dondolo Rocking Chair", der auf einen Entwurf der italienischen Designer Cesare Leonardi und Franca Stagi zurückgeht. Produziert wurden von 1969 bis 1975 gerade einmal fünfzehn bis zwanzig Exemplare. Die Designkritik lobte „Dondolo" aufgrund seiner „kalligrafischen Geste" und eleganten Einfachheit. Man bewunderte nicht zuletzt die Konsequenz der Plastik gewordenen Idee. Sympathien weckte auch die Gründungslegende, die von Cesare Leonardis Tochter in Umlauf gebracht wurde und die besagt, dass „Dondolo" 1965 beiläufig und anstrengungslos in nur einer Nacht zu Papier gebracht wurde. Die formgebende Linie, die Handschrift des Entwurfs, lässt sich am Objekt, vor allem in der Seitenansicht anschaulich nachvollziehen. Obendrein wird die Linie der Silhouette von den Rippen, die dem Schaukelstuhl Stabilität verleihen, wiederholt. Ein solches Modell von Selbstbezüglichkeit scheint gerade für einen Schaukelstuhl ideal zu sein, animiert es doch den Nutzer dazu, sich nicht den Reizen der Außenwelt zuzuwenden, sondern sich auf die Innenschau zu konzentrieren. Da „Dondolo" ohne Armlehnen auskommt, können Arme und Hände die Schaukelbewegung nicht unterstützen, sodass allein die Verlagerung des Gewichts in Richtung der Fußleiste den Stuhl vorkippen lässt.
Während „Dondolo" die Entspannung des Geistes und die Spannung des Körpers zueinander in Beziehung setzt, betont Denis Santachiaras „Mama" (1995) einen anderen Aspekt, der mit dem Schaukelstuhl verbunden sein kann: ein Gefühl von Geborgenheit. Hier wird über die Farbe, die Form und den Namen des Gegenstands eine – imaginäre – Rückkehr in den mütterlichen Schoß in Aussicht gestellt. Mit „Voido" (2005), produziert bei Magis, knüpft Ron Arad schließlich klar erkennbar an Friedrich Kieslers correalistische Forschungen an. Allerdings verwendet er keine nachwachsenden Rohstoffe, sondern den thermoplastischen Kunststoff Polyethylen und legt die Konstruktionstechnik offen: „Voido" verdankt seine Gestalt eindeutig dem Blasformverfahren. Die gestalterischen Möglichkeiten sind also nahezu unerschöpflich: Der Schaukelstuhl wird als Residuum, als Ort der Einkehr wie der Abkehr, als Medium der Regression und der Selbsterfahrung, als Instrument der Reflexion des gestalterischen Entwurfsprozesses, als Objekt des unkonventionellen Sitzens, des Genusses und des Vergnügens begriffen. Sogar das Image, ein staubiges Relikt der großväterlichen Welt, ein aus der Mode gekommener Nostalgieträger zu sein, dürfte sich letztlich als förderlich erwiesen haben, bietet es doch die willkommene Gelegenheit für Designer, an Traditionen anzuknüpfen und in kritischer Auseinandersetzung mit historischen Positionen Wissen, spielerische Freude und ironische Distanz unter Beweis zu stellen. Vor allem aber reizt die Auseinandersetzung mit einem Passagenphänomen, das im Rhythmus des Vor und Zurück schwingt. Eben dieses Vor und Zurück, dieses Streben nach einer besseren Welt, die vor uns liegt, und dieses nostalgisches Sehnen nach einer besseren Welt, die in vorindustrieller Zeit untergegangen zu sein scheint, macht das Wesen des Schaukelstuhls aus: Er ist anachronistisches Vehikel und Zukunftstrip zugleich. Wo unsere Kultur ansonsten ihr Heil in der Fortbewegung, im Geschwindigkeitsrauschs des Autos, des Zugs, des Flugzeugs und der Rakete sucht, da verheißt der Schaukelstuhl durch sein stetiges Vor und Zurück eine Bewegung im Stillstand, eine Erweiterung des Bewusstseins, die keinen Anfang und kein Ende kennt und dadurch eine Freiheit im Geiste eröffnet.
Eine umfassende Übersicht an Schaukelstühlen finden Sie hier:
› Schaukelstühle bei Stylepark
In unserer Serie zu den Produkttypologien sind bisher erschienen:
› „Alles, was Möbel ist" von Thomas Wagner
› „Nicht anlehnen!" über Hocker von Nina Reetzke
› „Von Ruhe und Gemütlichkeit" über Lounge Chairs von Mathias Remmele
› „Schaumstoffwiese, länger frisch" von Markus Frenzl
› „Im Universum der Stühle" von Sandra Hofmeister
› „Alles, was Stuhl sein kann" von Claus Richter
› „Das Regal – ein Möbel der öffentlichen Ordnung" von Thomas Edelmann
› „Wie der Sessel Ohren erhielt" über Sessel von Knuth Hornbogen
› „ Die Stütze der Gesellschaft" über Regale von Thomas Edelmann