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Der neue Futurismus – Der BMW GINA Light
von Thomas Wagner | 23.06.2008

Der technische Körper des 21. Jahrhunderts ist nicht gerundet, sein Fleisch besteht nicht aus Fleisch, seine Sehnen sind keine Sehnen – und wenn er sich dehnt und streckt und seine Muskeln spielen lässt, dann pulsiert kein Blut durch seine Adern, sondern Hydrauliköl. Er ist in sich gespannt wie vor einem Sprung, und er hat deutliche Konturen, die durch seine schimmernde Haut hindurch als messerscharfe Kanten und Knicke sichtbar werden. Sein Skelett besteht aus einem stabilen Spaceframe, und wenn sich seine Türen öffnen, dann wirft sein Kleid Falten wie die Pont Neuf in Paris, wenn Christo sie verhüllt. Sein Kopf ist von harten Graten überzogen, so, als erhebe sich aus einer Ebene urplötzlich ein Gebirge. Und das Gesicht dieser hybriden Gestalt trägt die prägnanten Züge der Männer der Zukunft, wie der Futurismus sie einst gezeichnet hat.

So etwas wie das BMW „GINA Light“ Visionsmodell hat die Welt noch nicht gesehen: ein Automobil, dessen Karosserie nicht länger aus Blech besteht, sondern dessen Körper ein straff sitzendes Kleid aus High-Tech-Gewebe umspielt, als sei der Beruf des Karosserieschneiders eine Erfindung der Zukunft und wahrlich der letzte Schrei. Das BMW Group Design hat, unter der Leitung von Chris Bangle, wahrhaft eine Revolution angezettelt. Konkretisiert hat sich die Vision für das Automobil der Zukunft in der Form eines zweisitzigen Roadsters mit allen markentypischen Proportionen.

Die auch heute schon skulpturale, aus verspannten und in sich verdrehten Flächen bestehende Formgebung wird beim GINA Light – GINA soll so viel heißen wie „Geometrie und Funktion in n-facher Ausprägung“ – konsequent weiterentwickelt. Front- und Seitenpartien bilden materiell und optisch eine fließende Einheit. Fugen gehören der Vergangenheit an – und schwingen die Türen nach oben, dann wirft das formstabile Kleid aus wasserabweisendem, kälte- und hitzebeständigem Hybridgewebe apart Falten.

Alle bisherigen Vorstellungen von der Gestaltung einer Fahrzeugkarosserie und der dabei verwendeten Materialien wurden infrage gestellt. An die Stelle üblicherweise festgelegter Elemente wie Frontschürze, Grill, Scheinwerfer, Motorhaube, Kotflügel, Türen, Radhäuser und Heckabschluss ist eine variable Struktur getreten. Über dieser Metallstruktur spannt sich ein hochstrapazierfähiges Spezialgewebe. Einzelne Elemente der Unterstruktur sind beweglich angeordnet, wobei sie, elektrisch oder elektrohydraulisch gesteuert, nach Bedarf ihre Position ändern und der „Haut“ nicht nur zu einer neuen Form, sondern dem Fahrer auch zu neunen Funktionen verhelfen können. Prägnantestes Beispiel: die in einer Falte verborgenen Scheinwerfer und die stufenlos veränderbare Kontur der Kotflügel, die sich mal hebt und mal senkt und so der jeweiligen Fahrsituation angepasst werden kann.

Muss, so lautet die Frage des BMW-Chef-Designers Chris Bangle, die Haut eines Autos immer aus Metall bestehen? Für Crashverhalten, Karosseriesteifheit und andere Teile der strukturellen Basis ist sie längst verzichtbar. Macht man sich das klar, dann eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten, zumal das Material, das eingesetzt wird, dann nicht mehr daran gebunden bleibt, eine bestimmte Funktion erfüllen oder eine einmal definierte Form annehmen zu müssen. „Die GINA-Philosophie“, so Bangle, „lautet in Kurzform: Flexibilität. Flexibel denken und flexibel handeln“. Oder, wie er es ausdrückt: „Context over dogma, that’s it!“

Ergebnis: Das Fahrzeug passt sich unterschiedlichen Anforderungen an. Je nach gewünschtem Luftwiderstand sind die Kotflügel mal flach, mal hochgezogen wie Schultern. Mal drückt sich über dem Kofferraum ein Spoiler in die Höhe wie der Muskelstrang eines Tigers vor dem Sprung. Mit dem GINA Light hält aber nicht nur eine Art materiellen „morphings“ Einzug ins Autodesign, also eine Mischung aus Überblendung und Transformation. Mit diesem weit in die Zukunft weisenden Entwurf kehrt auch die Faszination eines beständigen Gestaltwandels zurück, wie ihn der Futurismus in seiner Geschwindigkeitsbesessenheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts propagiert hat – bis hin zur „Vergötzung des beständigen Wandels“.

Betrachtet man den Ansatz von der Warte der Kunstgeschichte aus, so glaubt man, die Designer hätten versucht, Härte und Präzision einer entschlossen in den Raum tretenden futuristischen Plastik von Umberto Boccioni mit den Faltungen des Barock zu verschmelzen und mittels eines potenten Achtzylinders zum Laufen zu bringen. Entstanden ist auf diese Weise ein faszinierender technischer Futurismus, der einen Zeppelin mit einem Muskelmann, eine tote Maschine mit einem Stück atmenden Fleisches verschmelzen lässt. Hier ist er zu bestaunen, der neue hybride Typus einer Zukunft, in der Technik, Biologie und Mode gemeinsame Sache machen. Die Zukunft des Automobildesigns hat mit GINA wieder begonnen. „Ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint“, hat Marinetti 1909 verkündet, sei „schöner als die Nike von Samothrake.“ Wenn GINA, die neue Göttin, plötzlich die Augen aufschlägt und uns zublinzelt, dann möchten wir dem neuen Animismus fast schon Glauben schenken und annehmen: sie lebt!