Was ist eigentlich ein Regal? Sieht man etwa in der neuesten Ausgabe des „Kluge" nach, des Etymologischen Wörterbuchs der deutschen Sprache, so erfährt man dort, dass es sich um ein Substantiv handelt, das seit dem 17. Jahrhundert dem Standardwortschatz angehört und so viel meine wie „Gestell". Dann aber fällt ein verstörender Satz: „Die Herkunft ist nicht geklärt." Im Grimmschen Wörterbuch finden sich weitere Bedeutungen: das Regal als Hoheitsrecht, im Plural „Regalien". Auch das Register einer Orgel wird als Regal bezeichnet. Interessant sind auch die Verweise, etwa auf Johann Karl Gottfried Jacobssons „technologisches Wörterbuch oder alphabetische Erklärung aller nützlichen mechanischen Künste, Fabriken und Handwerker wie auch aller dabei vorkommenden Arbeiten, Instrumente, Werkzeuge und Kunstwörter nach ihrer Beschaffenheit und wahrem Gebraucht", das 1783 bei Nicolai in Berlin und Stettin erschienen ist. Dort steht: „Regal heißt auch im gemeinen Leben ein Bücherbrett, ein Repositorium, oder ein jedes anderes mit Fächern versehenes Gestell, Waaren und anderes Geräthe darinn aufzustellen. Daher Bücherregal, Warenregal, Küchenregal u.s.w."
Das Gestell im Wandel
Nicht nur die Herkunft des Begriffs, erst recht die Zukunft des Regals erscheint derzeit offen. Da gibt es einerseits das Hochregallager. Es boomt. Es ist ein vollautomatisierter Ort für den Umschlag von Waren aller Art, geradezu der Inbegriff der Warenwirtschaft in Zeiten des Internets. Offen ist es nur nach innen, nach außen zeigt es sich als abweisendes, oft turmartiges Gebäude. Was aber wird aus dem Regal im häuslichen Umfeld? Wird ihm das E-Book das Lebenslicht ausblasen? Wird es entleert, seines Zwecks beraubt und damit zur Karikatur seiner selbst? Gerhard Matzig, Architekt, Kritiker und Redakteur der Süddeutschen Zeitung ließ bereits das Totenglöckchen läuten, als er die „Abkehr vom umschlossenen Raum" verfasste, den „Nachruf auf das Bücherregal" (SZ, 4. Juni 2009). Darin konstatiert er: „Erst sind die Bücher aus den Wohnungen verschwunden, dann wurden die leeren Buchregale umfunktioniert." Schlimmer noch: „Die Wände, die oft nur danach bemessen wurden, wie viele Buchregalmeter sie aufzunehmen in der Lage wären, lösen sich auf." Für Matzig beginnt die Malaise keineswegs erst mit iPad & Co, vielmehr ist sie bereits in der Designgeschichte verankert. Der „Bookworm" (1994) von Ron Arad etwa, wollte als Möbelstück „ein ironisches Zitat des Bildungsbürgertums sein", tatsächlich habe er „das Verschwinden der Bücher und die Verformung ihrer Regale bis zur Dysfunktionalität wohl nur spielerisch vorweggenommen". Wer die Lage des Regals heute verstehen will, muss sich dessen Geschichte vergegenwärtigen. Er muss in Bücher blicken, in Bibliotheken rennen, lesen, blättern, stöbern – notfalls auch in E-Books.
Objekt im Raum
Das Versprechen des Regals besteht darin, den Raum weitgehend frei zu halten. Im Grunde bräuchten sich Bücher sowie nützliche und dekorative Dinge aller Art nicht auf Tischen, Stühlen oder gar vom Boden her auftürmen, sie könnten an der Wand entlang aufgereiht sein. Tatsächlich aber nimmt die Zahl der Dinge, mit denen wir alle Tage umgehen, beträchtlich zu. Zu Regalen in der analogen Welt gesellen sich längst auch digitale Modelle. Software wie „Delicous Library" oder „Bookpedia" ermöglicht es, eigene Bücher-, aber auch Musik- und Filmbestände zu katalogisieren und mit Marktdaten abzugleichen. Ganz zu schweigen von den eher naturalistisch gestalteten digitalen Regalen, die bei E-Book-Anbietern aller Provenienz anzutreffen sind, auch bei Apples E-Book-Shop unter iTunes.
Wie aber entstand das Regal, das Büchergestell? Auf Renaissance-Darstellungen des spätantiken Kirchenvaters und Übersetzers Sophronius Eusebius Hieronymus (347 bis 427), dem „Hieronymus im Gehäus", ist meist eine kombinierte Forschungs-, Lese- und Schreibstube zu sehen. Passend zum asketischen Lebensstil des Eremiten Hieronymus zeigen die Renaissance-Maler minimalistische Möbelkonstruktionen, die ein Lesepult, einen offenen Behälter oder einen verschließbaren Schrank zeigen, mitunter kombiniert mit einem Tisch und einer Sitzbank.
Historisches Ideal
Die Hieronymus-Darstellung von Antonello da Messina (um 1474) zeigt den Kardinal inmitten klösterlicher Gemäuer. In einem Raum, dessen Fenster sich zu einer fernen Landschaft erweitern, steht ein Kombinationsmöbel, das Podest, Behältnis, Lese- und Schreibpult verbindet. Messina transferiert die historische Figur des Hieronymus aus dem 5. Jahrhundert in die Gegenwart seiner Epoche, der Frührenaissance. Das Gemälde – und andere Versionen des gleichen Motivs – lässt den Kirchenmann Hieronymus als Idealfigur des forschenden Geisteswissenschaftlers erscheinen.
Der Wert des Buches
Zur Zeit der Renaissance konnte man Bücher nicht „downloaden", per Internet bestellen oder im Buchladen kaufen. Vermögende Büchersammler wie Federico da Montefeltro (1422 bis 1482), der Herzog von Urbino, ließen Bücher eigens herstellen, in jahrelanger „Zusammenarbeit von Schreibern, Zeilenziehern, Miniaturisten, Buchbindern und den für die Beschläge zuständigen Silberschmieden", nach verlässlichen Vorlagen kopieren, wie es Bernd Roeck und Andreas Tönnesmann in ihrem Buch („Die Nase Italiens") beschreiben. Kein anderer Fürst jener Epoche habe sich „mit Hilfe von Büchern in vergleichbar subtiler Weise erfunden und ähnlich vielschichtig dargestellt." Seine Bibliothek umfasste über tausend Codices, die heute überwiegend im Vatikan verwahrt werden. Er installierte sie in seinem Palast und beschäftigte einen eigenen Bibliothekar, der die Aufgabe hatte, „Personen von Autorität und Bildung (...) die Bücher behutsam zeigen" sollte, sie auf die „Schönheit und Vornehmheit von Schrift und Miniaturen hinweisen" und darauf zu achten hatte, „dass dabei kein Blatt geknickt wird."
In der Studierstube, dem „Studiolo" des Fürsten herrschte dagegen blankes Chaos, „Bücher verschiedenen Formats liegen wild gestapelt herum" (Roeck/Tönnesmann). Doch nicht wirkliche Bücher sind dort bis heute zu sehen, sondern eine 1479 bis 1482 gefertigte Tromp-l'œil-Darstellung, mit Intarsien aus verschiedenen Hölzern überzieht die Wandflächen des Raumes. Nur vermeintlich sind geöffnete Schränke zu sehen, mit einem Durcheinander aus Büchern und Alltagsdingen: Eine hoch artifizielle ironische Selbstinszenierung des Herzogs von Urbino.
Symbol der Öffnung
Mit der Gründung der ersten Universitäten drang Bildung aus der Sphäre der Kirche in die säkulare Welt vor. Für die Buchmöbel brachte dies dramatische Veränderungen. Bücher wurden nicht mehr in Schränke gesperrt, sondern auf großen Pulten ausgebreitet. Die Bücherschränke verloren ihre Türen. An die Stelle des Schrankes trat nun das offene, mitunter beidseitig zugängige Regal. Da die Codices allerdings wertvoll und – bis zur massenhaften Verbreitung des Buchdruckes – nur langsam zu vermehren waren, schlug man sie in Ketten, angeschlossen an Stangen. Dies verhinderte den Diebstahl der wertvollen Bücher ebenso wie eine unbeabsichtigte Veränderung ihres Standorts im Regal. Die Bibliotheken öffneten sich zwar, die Bücher aber standen unter Arrest. Der Prediger Johann Geiler von Kayserberg unterschied verschiedene Arten von Büchernarren. Wer sich von Büchern Ruhm erwarte, schrieb er 1510, „der muss aus ihnen lernen; nicht in der Bibliothek, sondern im Kopf muss er sie ansammeln." Tatsächlich aber habe ein Narr, der Bücher wie kostbare Möbel sammle, um damit zu protzen, „die Bücher in Ketten gelegt und zu seinen Gefangenen gemacht. Könnten sie sich befreien und sprechen, würden sie ihn vor den Richter zerren und fordern, dass nicht sie, sondern er eingekerkert werde."
Ab dem 18. Jahrhundert wurden die Bücher von ihren Ketten befreit. Heutige Sicherungstechniken sind subtiler. RFID-Chips im Buch lösen einen Alarm aus, will man sie aus dem Regal entfernen und unbefugt die Buchhandlung oder Bibliothek verlassen. „Es wäre gut Bücher kaufen", wusste Artur Schopenhauer, „wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte, aber man verwechselt meist den Ankauf der Bücher mit dem Aneignen ihres Inhalts."
Wenn es ums Buch und um das Regal geht, in dem sie stehen, so herrscht heute mitunter eine hysterisierte Stimmung. Digitalisierung ist Schrecken und Verheißung. Was ließe sich nicht alles an öffentlichen Mitteln sparen, wenn man beispielsweise Bibliotheken an Hochschulen schließen könnte, um sie durch digitale Speicher zu ersetzen? An einer Designhochschule in Hessen wurde ein Lehrbeauftragter kürzlich beschieden, solche wie er stürben bald aus. Und mit ihm Texte über Design. „Kein Mensch braucht heute einen Text, der länger als eine SMS ist", meinte die staatlich alimentierte Designlehrerin gegenüber ihrem prekär beschäftigten Kollegen. Ob man so wohl erführe, was ein Regal ist?
Eine umfassende Übersicht an Regalen finden Sie hier:
› Regale bei Stylepark
In unserer Serie zu den Produkttypologien sind bisher erschienen:
› „Alles, was Möbel ist" von Thomas Wagner
› „Nicht anlehnen!" über Hocker von Nina Reetzke
› „Von Ruhe und Gemütlichkeit" über Lounge Chairs von Mathias Remmele
› „Schaumstoffwiese, länger frisch" von Markus Frenzl
› „Im Universum der Stühle" über Stühle von Sandra Hofmeister
› „Alles, was Stuhl sein kann" von Claus Richter