Am ersten Tag laufen wir unserem eifrigen Hotelboy hinterher. Er führt uns in das älteste Viertel Tel Avivs, Neve Zedek, wo die Reichen und Künstler wohnen, eine recht untypische Mischung. Doch unser Interesse ist begrenzt, denn wir können es kaum abwarten endlich Richtung Rothschild Boulevard, den Champs-Elysées' Tel Avivs, aufzubrechen. Denn dort, sagt man, reihen sich die Häuser im Bauhausstil nur so aneinander. Unser selbsternannter Begleiter ruft uns noch hinterher: „Das Bauhaus gehört euch". Dann ist es soweit: Wir sehen die ersten weißen, dekorlosen, kubischen Wohnbauten.
Sechzig Familien gründen 1909 auf sandigem Boden, auf einer völlig unbebauten Fläche in der Nähe eines Hafenstädtchens Tel Aviv, zu Deutsch „Frühlingshügel". Wegen der ständig wachsenden Zahl der Einwanderer - allein in den Jahren zwischen 1933 und 1939 sind es mehr als 235000 Immigranten - braucht Palästina dringend Wohnraum. Die Architektur soll dabei besser, schöner, moderner, sozialer und zwangsläufig billiger werden. Israel, das bedeutet auch: ein neues Land bauen.
In lockerer Bebauung reihen sich die Bauten im Internationalen Stil aneinander. Nur an bestimmten Straßen der Innenstadt ist deren Dichte besonders hoch. Teilweise sind sie schon restauriert, die meisten jedoch könnten eine Auffrischung gebrauchen. Später entstandene Wohnhäuser passen sich dem Bestand an, so dass nur an wenigen Details abzulesen ist, welcher Bau zum Internationalen Stil gehört und welcher neueren Datums ist.
Landläufig werden die mehr als 4000 Gebäude, die zwischen 1933 und 1948 entstanden, in Tel Aviv zusammenfassend als „Bauhaus-Architektur" beschrieben. Allerdings ist der Einfluss des Bauhauses von Walter Gropius auf die Architektur Israels vergleichsweise gering. Was das Bauhaus allerdings beigesteuert hat, ist der Traum von einer neuen Lebensgestaltung, von neuen Formen des Bauens und deren räumliche Gliederung. Auch die gemeinschaftliche Arbeitsweise des Bauhauses entspricht der sozialistisch-zionistischen Idee der Kibbuzbewegung.
In gewisser Weise bündelte die Schule in Weimar und Dessau all jene Architekturströmungen, die damals in Europa verbreitet waren, vom Internationalen Stil, dem Deutschen Werkbund und der De Stijl-Gruppe. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts flüchteten die frisch ausgebildeten, jüdischen Architekten aus ganz Europa nach Palästina. Die Eingewanderten studierten an unterschiedlichen europäischen Schulen. Besonders die belgische Schule in Brüssel und Gent war wegen ihrer Kombination aus Ingenieurswissenschaft und Architekturlehre sehr beliebt. Andere kamen vom Bauhaus, schlossen ihr Studium in Frankreich oder Österreich ab. Sie brachten die revolutionären Ideen von Le Corbusier, Walter Gropius, Mies van der Rohe und vor allem Erich Mendelsohn in die neue Heimat.
Andere, die Ende der Zwanzigerjahre bereits in Palästina studiert haben, nehmen die neue Bauweise in ihr Repertoire auf. Dabei hat die Verbindung aus den erlernten, architektonischen Kenntnissen und den lokalen klimatischen Bedingungen zusammen mit der Kultur der Region eigenständige, neue Formen hervorgebracht. Die großen Glasoberflächen der europäischen Moderne, die den Innenraum übermäßig aufgeheizt hätten, waren in Israel schlicht undenkbar. So sind an die Stelle der Fensterbänder lange, zurückspringende Balkone getreten, in deren Brüstungen oft horizontale Lüftungsschlitze eingebaut sind, um den kühlenden Meereswind durch das Gebäude wehen zu lassen. Die fehlenden Fensterflächen werden zudem durch Vor- und Rücksprünge im Gebäudevolumen oder in der Struktur des Putzes angedeutet. Auch dabei ging es weniger um Bezüge zu einer europäischen Moderne als vielmehr um die Anpassung an die klimatischen Gegebenheiten.
Vorrangig dient jedes architektonische Element, ob Pergola oder auskragendes Betonvordach, dem Wohlbefinden des Menschen. Einige Gebäude wurden deswegen sogar aufgeständert: Der Meereswind sollte das Haus abkühlen. Die Erhöhung des Gebäudes hatte aber noch andere Vorteile. Zum einen wurde der Stadtraum nicht verbaut und die Fläche konnte vielseitig, beispielsweise als Hof, Garten oder Stellfläche, genutzt werden; zum anderen wurden die Wohnungen vor dem gröbsten Dreck und Krach der Straße geschützt; und schließlich spendete der Baukörper selbst nun Schatten. Später, als mehr Nutzfläche von Nöten war, baute man die Freiräume auf der Erdgeschoßebene teilweise in Geschäfte um. Ze'ev Rechter, der sein Studium in Paris abgeschlossen hat, war ein begeisterter Schüler Le Corbusiers. Er baute den ersten Pfahlbau Tel Avivs. Heute steht das Gebäude, verwachsen und zugebaut, eher unscheinbar an einer Straßenecke. Ein altes Foto auf einem Bauschild, erzählt von seiner früheren Pracht.
Seitdem das einzigartige Ensemble in Tel Avivs Innenstadt 2003 von der UNESCO auf die Liste des Weltkulturerbes gesetzt wurde, passiert etwas in der Stadt. Tausend Gebäude stehen unter Denkmalschutz, 120 davon unterliegen strikten Auflagen. Je nach Bauwerk wird über die entsprechenden baulichen Erneuerungsmaßnahmen entschieden. Denn im Zuge des starken Wachstums der letzten Jahrzehnte wurden beispielsweise ein bis maximal zwei Stockwerke, leicht nach hinten versetzt, auf die Wohnhäuser aufgebaut. Die Reglementierung der Aufbauten sollte den Gartenstadtcharakter Tel Avivs nach dem städtebaulichen Konzepts von Sir Patrick Geddes von 1925 erhalten.
Hinter der Adresse „Zamenhoff Straße 1" verbirgt sich ein echtes Meisterwerk. Hier erfüllt sich die Sehnsucht, jene fließenden Formen leibhaftig zu erfahren, die sich dem Gedächtnis mittels gesehener Bilder von Häusern in subtropischen Breiten eingebrannt hat. Alles ist vorhanden: Weiß getünchter Putz, dünne Säulen, ein zurückspringender Eingang, mit Messing beschlagene Türrahmen und lange, schwungvolle Balkonbänder, die das Gebäude sanft umschmeicheln und in den blauen, wolkenlosen Himmel ragen: Das Hotel Cinema ist ein liebevoll renoviertes Kleinod des Internationalen Stils und Teil des Gesamtkunstwerks Dizengoff Platz. Der Dizengoff Platz sollte dem Plan von Geddes zufolge die Form eines Sechsecks haben und so an den Davidstern erinnern. Die Architektin Genia Averbouch, die den Planungswettbewerb 1934 gewann, ordnete die Häuser jedoch in einem Kreis an. Meir Dizengoff, der erste Bürgermeister Tel Avivs, hatte den Wettbewerb zu Ehren seiner verstorbenen Frau Zina ausgelobt. In den siebziger Jahren wurde aufgrund des gesteigerten Verkehrsaufkommens der grüne, verkehrsberuhigte Platz erhöht, so dass die Fußgänger heute über den Straßen auf blauen, um einen Brunnen gruppierten Bänken Platz nehmen können. Zurzeit wird überlegt, ob die ursprüngliche Bebauung wieder hergestellt werden soll.
Auf einer der zahlreichen Grünflächen - meist unbebauten Flächen im Stadtraster, die von wucherndem Grün überzogen sind - steht ein kleiner Kiosk, aus dem es nach Kaffee und Kuchen duftet. Wir nehmen auf einer Bank Platz und unterhalten uns mit zwei Stammgästen. Zwischendurch schnüffelt ein Hund an allem herum, was ihm vor die Nase kommt. Die beiden fragen uns, ob wir keine Angst hatten, nach Israel zu reisen. Wir antworten und fragen zurück, was sie von Israels Politik hielten und wie es sich hier, in einer Stadt mit so viel großartiger Architektur, wohnen lasse. „Israel is sick. - Sick?! I would say complicated", sagt einer der beiden. Von Architektur war leider keine Rede mehr.
Im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main ist bis zum 13. September 2009 die Ausstellung „Die weiße Stadt - Tel Avivs Moderne" zu sehen.
www.dam-online.de
Und im Martin-Gropius-Bau in Berlin kann bis zum 4. Oktober 2009 die Ausstellung „Modell Bauhaus" besichtigt werden.
www.modell-bauhaus.de