In den letzten Jahren sind viele neue und baukünstlerisch wertvolle Architekturen entstanden, die das textile Bauen wieder in den Vordergrund und damit verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt haben. Zu beobachten ist eine neue Experimentierfreudigkeit, die versucht, haptische und optische Qualitäten von Textilien auf andere Materialien zu übertragen. In Vergessenheit geratene Traditionslinien textiler Architekturen werden wieder aufgegriffen und in moderner Formsprache sowie mit neuester Materialtechnologie weiterentwickelt.
Muster: Nottingham Contemporary
Das Museum Nottingham Contemporary (2004-2009) in den East Midlands Englands zählt zu den Leuchtturmprojekten der britischen Kulturpolitik des letzten Jahrzehnts. Sie sind entstanden, um die deindustrialisierten Städte mit Bilbao-Effekten touristisch anzukurbeln. Im Zentrum Nottinghams türmen sich unterschiedlich proportionierte Kuben entlang der sanften Steigung des Terrains. Mit ihrem Neubau beziehen sich die Londoner Architekten Caruso St John explizit auf Gottfried Sempers (1803-1879) Textiltheorie. Die Ursprünge der Wand – einst ein Geflecht aus Stoffen in unterschiedlichen Webmustern, um das karge Gerüst der sogenannten Urhütte zu umhüllen – nimmt in diesem Entwurf eine zentrale, gestalterische Aufgabe ein. Die einzeln ablesbaren Ausstellungskubaturen der Nottingham Contemporary mit ihren hohen Aufbauten werden durch einen einheitlich wirkenden, großen Vorgang aus aneinandergereihten, vertikal verlaufenden sowie eingefärbten Betonschalen und champagnerfarbenen Halterungsprofilen optisch miteinander verbunden. Nur an ausgewählten Stellen durchbrechen großformatige Fenster die steinerne vorgehängte Hülle und geben Einblick in das zu schützende Innere.
Erst bei näherer Betrachtung offenbart die grün-grau schimmernde Betonschale ihre besondere Oberflächenbeschaffenheit in Form eines gegossenen Abdrucks eines ornamentalen Spitzen-Musters. Mit dem Abguss der Spitze wollen Caruso St John auf die ehemalige Industrie- und Textilgeschichte Nottinghams im 19. Jahrhundert verweisen und spielen mit dem Bild des Textilen eines kollektiven Gedächtnisses. Mit dem Konzept des Verwebens von sozialen, politischen und baulichen Aspekten wird der Museumsbau in seinen historischen und gegenwartsbezogenen Kontext gesetzt.
Große Geste: Curtain-Wall-Fassade auf dem Vitra Campus
Aber nicht nur für die Kulturbauten entstehen seit einiger Zeit anspruchsvolle stoffliche Architekturen. 2013 präsentierte die Firma Vitra ein weiteres Sammlungsstück für ihren Vitra-Campus in Weil am Rhein. Die neue Fabrikationshalle (2006-2013) wurde vom japanischen Büro SANAA entworfen und soll die Produktionsbedingungen der Zukunft baulich widerspiegeln. Um dem größten Baukörper (180 Meter im Durchmesser) auf dem Campusgelände seine Monumentalität zu nehmen, haben die Architekten auf einen exakten kreisförmigen Grundriss verzichtet und ihm eine weiche amorphe Gestalt, wie aus dem Handgelenk gezeichnet, verliehen.
Für die Verkleidung der Halle entwickelten die Architekten anhand von Papiermodellstudien eine Curtain-Wall-Fassade aus gewellten, milchig-weißen Acrylglaspaneelen. Wie bei Nottingham Contemporary, dessen Sichtbeton die haptischen Qualitäten von Samt oder Spitze aufweist, übertragen die Architekten der Vitra Werkhalle die Assoziation des Stofflichen und Textilen auf andere Materialien in Haptik und Optik. Die anspruchsvollen gestalterischen Festlegungen an die Acrylglaselemente setzten einen rhythmisch abwechselnden Wellenverlauf in unterschiedlichen Intensitäten voraus. Hierfür einigte man sich auf drei differenziert gestaltete Module von 1,80 Meter Breite und 11,30 Meter Höhe.
Das mehrschichtige ko-extrudierte Acrylglas besteht zunächst aus einer klaren (5 mm) und einer weißen (1 mm) Schicht, die in einem, wegen der Sonderlänge der Elemente, eigens angefertigten Ofen bei 60 Grad erhitzt und für die Wellenbildung vakuumverformt wird. Wegen den besonderen Herausforderungen im Herstellungsprozess bekam die Acrylglas-Vorhangfassade nur eine Zulassung im Einzelfall und ist nicht patentierbar. Ihr hartes weißes Erscheinungsbild verleiht der neuen Lagerhalle eine starke Präsenz, die sogar bei grauen Witterungsbedingungen hervorstrahlt.
Neue Geschichte – alte Legende: Zaha Hadid & die Serpentine Galleries
Der Pavillon der Serpentine Galleries im Londoner Kensington Gardens präsentiert seit dem Jahr 2000 alljährlich abwechslungsreiche und stimmungsvolle Raumkompositionen kleiner Architekturen im Zusammenspiel mit dem hervorragend gelegenen Setting – und ist ein wahrer Fundus für aktuelle Positionen zur Architektur des Textilen. Aber auch der 2013 fertig gestellte Neubau der Serpentine Sackler Gallery von Zaha Hadid in unmittelbarer Nähe wartet mit einer Inszenierung des Stofflichen auf: Er hat eine Zeltkonstruktion als Erweiterung erhalten. In Anlehnung an die drei kelchförmigen freistehenden Schirme, die Hadid 2007 für ihre temporäre Bespielung „Lilas“ für die Serpentine Galleries entwickelt hat, greift die Londoner Architektin dieses Motiv in ihrem Galerieneubau wieder auf, verbindet aber nun die einzelnen Kelche mit einem zusammenhängenden Dach aus Glasfasergewebe.
Die Dachhaut gehört zum integralen Bestandteil des Gebäudetragwerks. Der ringförmige Träger, als eine auf drei Punkten gelagerte verdrehte Traverse ausgeführt, schmiegt sich an den bestehenden Altbau und schwingt strotzend vor Leichtigkeit zur Parkseite hinüber. Inspiriert von komplexen und natürlichen Geometrien, nimmt der Pavillon von Hadid mit seiner kalligrafischen Linienführung der Bögen und Schwingungen Bezug zu den legendären Schirmkonstruktionen von Frei Otto.
Vom Labor zum Manifest: Radi´c, Koolhaas & Co
Der Serpentine Pavilion des Chilenen Smiljan Radi´c von 2014 versucht im Gegensatz zur leichten Zeltkonstruktion Hadids mit seinem eher urzeitlichen, archaischen Modell eines auf Findlingen lagernden Höhlenbaus aus Fieberglas eine Atmosphäre des Geborgenheit hervorzurufen. Diese spannungsreiche Erlebniswelt an Raumerfahrungen in direkter Gegenüberstellung der beiden Serpentine-Bauten kulminiert auf symbiotische Weise in einem komplexen Pavillon für Miuccia Prada in Seoul von Rem Koolhaas, OMA/AMO von 2009.
Der temporäre Bau von 20 Metern Höhe ist als multifunktionaler Transformator angelegt. Seine Konfigurationsmöglichkeiten drücken sich in den vier verschiedenen Grundflächen Kreis, Quadrat, Kreuz und Sechseck aus, die konstruktiv miteinander verbunden sind und je nach Aufstellung neue Ansichten und Bespielungen von Kino, Kunst- und Modeausstellung bis zur Fashionshow zulassen. Die Außenhaut aus einer PVC-Membran spannt sich straff und enganliegend über den Körper, betont seine Konturen auf harte Weise, aber auch durch weiche Übergänge. Anhand eines vorab angefertigten Schnittmodells sind die Textilflächen zuerst über das Stahlgerüst gespannt worden, um im Anschluss mit weiteren Einzelteilen in Klebesprühtechnik zu einem homogen, fugenlosen Kokon zu verschmelzen. Die transluzente, 1,5 Millimeter dünne PVC-Membran wurde ursprünglich im Rahmen der Forschung der Militärindustrie der 1950er Jahre entwickelt. Aufgrund ihrer Materialbeschaffenheit lässt die Membran unter ihrer Haut keine Oxidation, Schimmelbildung und Feuchtigkeit zu und eignet sich optimal für eine erweiterte Nutzung als Hülle des Prada Pavillons zum Schutze der Kleider-Exponate.
Wie dieses und andere Beispiele zeigen – die interdisziplinäre Verwendung von Materialien, die Symbiose von Kunst, Architektur, Design, Ingenieurwissenschaften und Textilforschung, lässt mit den neuen Architekturen des Stofflichen interessante und spannende Raum-Konstruktionen von atmosphärischer, haptischer Einprägsamkeit entstehen, die sich aufgrund ihrer Klarheit und Radikalität auch als Manifest einer neuen Stofflichkeit lesen lassen.
Mehr technische Textilien sehen Sie auf der Messe Techtextil in Frankfurt am Main – vom 4. bis 7. Mai 2015:
www.techtextil.messefrankfurt.com
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